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Droge Internet

Oliver Schilling11. März 2003

Die Internetsucht grassiert. Jobverlust und sozialer Abstieg sind die Folgen der Abhängigkeit für die Betroffenen. Eine Million Menschen sind allein in Deutschland betroffen.

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Internetsüchtige haben keine Zeit für Akten und PapierBild: Bilderbox

Sie machen die Nächte zum Tag, geben sich als "Jocool", "kreec" oder "juliese" aus, kennen ihre Chatpartner besser als die eigenen Kinder, Partner und Freunde. Am Ende steht meist der Jobverlust und der Zusammenbruch jeglicher sozialer Beziehungen. Von Internetsucht ist die Rede.

Mehr als 1 Million Menschen sind davon in Deutschland betroffen, wie André Hahn von der Marktforschungsagentur Research International erklärt. Vor zwei Jahren hat er für die Berliner Humboldtuniversität eine Studie erstellt, nach der 2,67 Prozent aller Onlinenutzer in Deutschland akute Syptome von Internetsucht aufweisen. "Dieser Prozentsatz hat sich bis heute nicht geändert, allerdings ist die Zahl der Internetnutzer von damals 25 auf nun 30 Millionen gestiegen", erklärt der Forscher im Gespräch mit DW-WORLD.

Flatrates senken Einstiegshürde

In der Regel weisen die Betroffenen die gleichen Symptome auf: Sie verbringen zunehmend Zeit im Internet, vernachlässigen ihre Familie, Freunde, Schule und Arbeit. Die Trennung vom Partner und der Verlust des Arbeitsplatzes sind oft die Folgen. Bis zur Einführung von Flatrates und Pauschaltarifen trieben zudem astronomische Telefonrechnungen die Betroffenen ins finanzielle Abseits. "Durch die Flatrates ist das finanzielle Risiko der Süchtigen etwas gemildert. Andererseits ist die Einstiegshürde nun sehr viel niedriger. Die Droge ist leichter verfügbar", sagt André Hahn. Haben Internetsüchtige keinen Zugang zum Netz, so zeigen sie psychische Entzugserscheinungen, werden nervös, gereizt bis aggressiv und unkonzentriert.

Chatten bis in die Morgenstunden

Internet Café in Nairobi
Internetcafés bieten kurze Befriedigung für InternetabhängigeBild: AP

Gabriele Farke war nach eigenen Angaben über zwei Jahre Internetsüchtig. Zuerst surfte die gelernte Industriekauffrau ab und an im Büro. Dann kaufte sie sich einen Computer und surfte jeden Tag mehrere Stunden nach der Arbeit. "Das Internet nahm einen größeren Raum ein, als meine Familie", erzählt die 47-Jährige im Gespräch mit DW-WORLD. Stundenlang hielt sich Farke in Chaträumen auf, diskutierte bis in die Morgenstunden unter Pseudonym mit vermeintlichen Bekannten, von denen sie sich besser verstanden fühlte als von ihren eigenen Freunden.

Im Rückblick bezeichnet Gabriele Farke das Chatten als "oberflächliches Geplänkel". Farkes Sucht verlief typisch: Sie verlor soziale Kontakte, ihre Tochter fühlte sich vernachlässigt und zog mit 18 Jahren aus, Farke verlor ihren Job und leidet heute noch an den finanziellen Folgen der damaligen Telefonrechnungen. 1996 schrieb sie ein Buch über Internetsucht und gründete 1999 eine Selbsthilfeorganisation für Netzsüchtige. Durch das Schreiben ihres Buches sei sie aus der Suchtfalle gekommen, erzählt Gabriele Farke.

Internetsucht als Form der Spielsucht

Psychologen und Psychiater forschen weiterhin über die tatsächlichen Ursachen und Formen von Internetsucht. Werner Platz, Psychiater an der Freien Universität Berlin, therapiert seit mehreren Jahren Internetsüchtige. Für ihn ist Internetsucht eine moderne Form der Spielsucht, hinter der aber meist andere psychische Verstimmungen, beispielsweise Depressionen, stehen.

Für Platz ist klar, dass Internetsüchtige bereits eine Anfälligkeit für Suchtverhalten mitbringen, die in eine andere Sucht umschlagen kann, wenn die dahinter liegende Grundstimmung nicht therapiert wird. Schritt für Schritt sollten Betroffe die Zeit, die sie im Netz verbringen, reduzieren und gleichzeitig eine Gesprächstherapie machen. Sind die Internetsüchtigen geheilt, so hält die Informationstechnologie allerdings neue Suchtfallen für sie bereit: Mehrere tausend Menschen sollen bereits an SMS-Sucht leiden.