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Drama auf zwei Rädern

Joscha Weber (aus Rio de Janeiro)7. August 2016

Zum Auftakt der Spiele bieten die Radsportler auf einem grenzwertigen Kurs ein dramatisches Rennen mit Stürzen, tragischen Helden und einem Überraschungssieger, wie Joscha Weber an der Copacabana beobachtet hat.

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Greg van Avermaet siegt in Rio (Bild: EPA)
Bild: picture-alliance/dpa/J. Etxezarreta

Er will, aber er kann nicht mehr. Rafal Majka rutscht in seinem Sattel vor und zurück, sein Gesicht ist schmerzverzerrt und er fährt auf gerader Strecke plötzlich seltsame Schlenker. Es scheint, als haben ihn plötzlich alle Kräfte verlassen. Auf der weitläufigen Strandpromenade von Ipanema ist der Pole auf dem Weg zu Gold, danach sieht es lange Zeit aus. Sechs Kilometer vor dem Ziel beträgt Majkas Vorsprung auf die Verfolger 25 Sekunden. Doch die schmelzen in der brasilianischen Nachmittagssonne nur so dahin. Zwei Kilometer vor dem Ziel ist davon fast nichts mehr übrig. Verzweifelt versucht Majka noch einmal zu beschleunigen, doch Sekunden später wird er eingeholt. Er ist der letzte von mehreren Sieganwärtern, deren Hoffnungen auf dem schwersten Radkurs in der Geschichte der Olympischen Spiele in sich zusammenfallen.

Der Belgier Greg van Avermaet und der Däne Jakob Fuglsang rauschen von hinten heran, haben gemeinsame Sache gemacht, um Majka doch noch zu stellen. Zusammen biegt das Trio auf die Zielgerade ein, doch der müde Majka ist im Sprint chancenlos, Bergspezialist Fuglsang ebenfalls - und der endschnelle Klassikerjäger Greg van Avermaet nicht zu bezwingen. Jubelnd reißt der 31-Jährige Flame nach 241,5 Renn-Kilometern seine Arme in die Luft und schreit seine Freude heraus. Dass kurz zuvor außerhalb der abgesperrten Rennstrecke ein verdächtiger Rucksack vom Einsatzkommando der brasilianischen Polizei kontrolliert gesprängt worden ist, bleibt glücklicherweise eine Randnotiz dieses Wettkampftages.

Ein grenzwertiger, aber "Olympia-würdiger" Kurs

Während Majka wortlos und mit gesenktem Haupt an allen Journalisten vorbeirollt, steht van Avermaet mit breitem Grinsen in der Mixed Zone und scheint sein Glück nicht fassen zu können. "Als wir Majka dann eingeholt hatten, war es eine perfekte Situation für mich. Es ist noch etwas surreal. Du hast nicht viele Chancen, Olympiasieger zu werden. Hier auf der Copacabana zu gewinnen - es könnte nicht besser sein", sagt der Belgier, der eigentlich eher ein Mann für wellige Klassikerstrecken ist, nicht aber für knüppelharte Bergprüfungen, wie die Olympiastrecke in Rio.

Insbesondere die drei Schlussrunden über den 8,9 Kilometer langen und im Schnitt 6,2 Prozent steilen Anstieg hinauf zum pittoresken Aussichtspunkt Vista Chinesa verlangen den Fahrern alles ab. Bergauf mit bis zu 20 Prozent steilen Rampen und bergab mit engen S-Kurven, in denen schließlich mehrere Fahrer zu Fall kommen. Dennoch wird der Deutsche Emmanuel Buchmann später im DW-Gespräch den Kurs als "absolut Olympia-würdig und spannend" preisen. Teamkollege Simon Geschke findet den Kurs "grenzwertig", aber ebenfalls fahrbar.

Simon Geschke: 150 Kilometer an der Spitze

Bevor es an der Vista Chinesa zum Showdown kommt, müssen die Radprofis eine lange Anfahrt absolvieren. Das Rennen ist nicht einmal eine halbe Stunde alt, da attackiert Geschke am ersten Hügel. Und der Vorstoß sitzt: Ihm folgen fünf weitere Fahrer, darunter Ex-Weltmeister Michal Kwiatkowski aus Polen und Tour-de-France-Etappensieger Jarlinson Pantano aus Kolumbien. Die Gruppe harmoniert gut und fährt schnell einen Vorsprung von acht Minuten heraus, auch weil das Peloton dahinter erst einmal eine kollektive Pinkelpause einlegt. So etwas gehört zum üblichen Spiel zwischen Ausreißern und Feld, wenn wechselseitig das Tempo gedrosselt und wieder erhöht wird. Eines ist jedoch anders im olympischen Rennen: Funkverkehr zwischen Fahrern und ihren sportlichen Leitern ist nicht erlaubt. Somit entfällt die permanente Abstandsinfo aus dem Begleitfahrzeug - und das Rennen wird ein Stück unberechenbarer.

Rio 2016 Strassenrennen Rad Copacabana (Copyright: Mike Egerton/PA Wire).
Das Radrennen in Rio bot zwar eine malerische Kulisse, forderte den Fahrern aber alles abBild: picture alliance/empics/M. Egerton

Vielleicht auch deshalb bilden die Favoritenteams aus Spanien, Italien und Großbritannien früh eine Allianz, mit dem Ziel, den Vorsprung der sechs Ausreißer wieder zu reduzieren - mit Erfolg. Das Feld zieht auf dem viermal zu fahrenden Rundkurs von Grumari westlich von Rio die Leine zu den Ausreißern immer kürzer. Nach dem flachen Rückweg nach Rio über die nicht enden wollende Strandpromenade von Barra naht die Vorentscheidung.

Der "Hai von Messina" verschätzt sich

Als es zum ersten Mal steilen Anstieg hinauf zum Aussichtspunkt Vista Chinesa geht, ist die 150 Kilometer lange Flucht für Simon Geschke beendet. "Ich wäre gerne noch länger vorne geblieben, aber das Tempo im Feld war einfach zu hoch", so Geschke im Gespräch mit der DW. Im zweiten Anstieg hinauf in den grünen Nationalpark Barra da Tijuca attackiert dann sein Teamkollege Emmanuel Buchmann. Der 23 Jahre alte Deutsche Meister von 2015 wird aber schnell wieder eingeholt. Dahinter wird taktiert und abgewartet. Denn es ist klar: Wer auf den Rampen zu früh seine letzten Kartuschen aufbraucht, ist im Finale schnell abgehängt. Eine Konterattacke einiger Favoriten-Helfer wie Gerraint Thomas (Großbritannien) oder Damiano Caruso (Italien) und Außenseitern wie Greg van Avermaet oder Rafal Majka scheint zunächst eher taktische Bedeutung zu haben. Doch letztgenannte setzen sich von dem immer kleiner werdenden Feld der Favoriten ab - eine rennentscheidende Aktion.

Auf der vorletzten Abfahrt schließen dann die beiden italienischen Ausnahmekönner Vinzenco Nibali und Fabio Aru zur Spitzengruppe auf. Während sich weiter hinten Alejandro Valverde und Chris Froome, der im Finale seiner Favoritenrolle nicht gerecht werden kann, belauern, sprengt vorne Nibali die Spitzengruppe mit mehreren Tempovorstößen. Gemeinsam mit Majka und dem Kolumbianer Sergio Henao stürzt er sich in die finale Abfahrt Richtung Innenstadt. Auf solchen Passagen ist der "Hai von Messina", wie Nibali von den Tifosi genannt wird, voll in seinem Element und nicht wenige Journalisten im Zielbereich setzen bereits fest auf den Giro-Sieger. Doch dann fällt auch dieser Sieganwärter - im Wortsinn. In einer Rechtskurve stürzt er schwer, reißt Henao mit und beide bleiben verletzt liegen. Majka kommt unbeschadet durch und sieht schon wie der sichere Sieger aus, ehe ihm kurz vor der Copacabana die Energie ausgeht. Van Avermaet hingegen ist heute an der Copacabana "The last man standing".