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„Dr. Beethoven“ – Michael Korstick

4. November 2005

Michael Korstick hat sich als Beethoven-Interpret einen Namen gemacht. Die Feuilletonisten jubeln über seine CDs.

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Michael KorstickBild: Marion Koell

Normalerweise sitzt man um diese Zeit in der Kirche. Der eine oder andere vielleicht auch noch beim Frühstück. Als ich an diesem Sonntagmorgen jedoch um 10 Uhr im Congresscentrum Pforzheim ankomme, hat Michael Korstick schon sein Tagewerk begonnen. Durch die dicken Holztüren dringt der wuchtige Steinway-Sound. Rachmaninows zweite Sonate, erster Satz, vollgriffige Akkorde im Fortissimo. Doch Korstick spielt nicht nur laut. Sein güldener Ton, die Kraft seines Akkordspiels besitzen physische Intensität.

Die Aufnahmen zur ersten reinen FONO-FORUM-CD sind in vollem Gange. Man darf den Saal nicht betreten, da Korstick einen kompletten Durchlauf spielt und Nebengeräusche vermieden werden sollen. Also plaudere ich beim Künstlereingang mit Robert Ritscher. Der Klavierstimmer und Intonateur aus Hannover hat viel zu erzählen. Schließlich hat er noch mit Arrau und Kempff, lange Zeit auch mit Brendel gearbeitet.

„Der Flügel klingt heute viel schöner als vor zwei Jahren“, sagt Ritscher. Damals nahm Korstick hier Beethovens „Waldstein-“ und „Hammerklaviersonate“ auf. Eine Einspielung, die bei ihrer Veröffentlichung aufgrund der extremen Tempi in der „Hammerklaviersonate“ für Gesprächsstoff sorgte. Die Ecksätze spielte er – Beethovens Metronomzahlen folgend – rasend schnell. Beim langsamen Satz hingegen vertraute er eher auf die Satzbezeichnung „Adagio sostenuto“ als auf die Metronomzahl, nahm sich fast 29 Minuten Zeit und spielte den Satz mit einer Intensität, die nie spüren ließ, dass es wohl eine der langsamsten, wenn nicht gar die langsamste Einspielung der Schallplattengeschichte ist. „Wie ist es möglich, dass ein so spektakulärer Beethoven-Interpret wie Korstick im Musikbetrieb bis heute nahezu unbekannt geblieben ist?“, fragte Oswald Beaujean daraufhin im Feuilleton der „Zeit“.

„Dr. Beethoven“ haben die Kommilitonen Korstick bereits Ende der 1970er Jahren an der Juilliard School gerufen. Nun hat er mit den Diabelli-Variationen bei Oehms Classics einen Beethoven-Zyklus eröffnet, der nicht nur die Sonaten und größeren Einzelstücke, sondern auch sämtliche Werke für Klavier und Orchester beinhalten soll.

Auf den Variationen-Zyklus hat sich Korstick sorgfältig vorbereitet. „Es gibt gerade in den Diabelli-Variationen ein paar Problem-Stellen, kleine Abweichungen zwischen den beiden wichtigen Druckausgaben, die wir heute benutzen, zum einen die Henle-Ausgabe und zum anderen die so genannte Neue Wiener Urtextausgabe. Die Unstimmigkeiten sind Folge der Quellenlage: Denn bei den Diabelli-Variationen haben wir ein Manuskript, eine Abschrift, die von Beethoven überprüft ist, und die Erstausgabe. Wir können also auf drei Quellen zurückgreifen, die sich aber leider teilweise widersprechen. Und es gibt nun erhebliche Abweichungen zwischen den beiden Druckausgaben, weil es eben Momente gibt, wo die Herausgeber eine Entscheidung treffen müssen, welcher Quelle sie den Vorzug geben wollen. Und im Falle der Diabelli-Variationen sind eben an verschiedenen Stellen von den beiden Herausgebern unterschiedliche Entscheidungen getroffen worden.“

Korstick nutzte die Unklarheiten zum Besuch im Bonner Beethoven-Haus, blickte selbst ins Manuskript und in die Erstausgabe. „Schon allein die Erstausgabe in der Hand zu halten ist ein erhebendes Gefühl.“ Die Recherche lohnte sich: „Ich habe beispielsweise an einer Stelle wirklich eine Entscheidung getroffen, die von den beiden gebräuchlichen Drucksausgaben abweicht.“

Detailfragen. Natürlich. „Wenn einem aber heutzutage all diese wunderbaren Möglichkeiten zur Verfügung stehen, um sich einen optimalen Text zu erarbeiten, dann steht man als Interpret auch in der Pflicht, das zu tun.“ Anders sei das bei den Kollegen aus der Vergangenheit: „Als Schnabel die Sonaten aufgenommen hat, gab es noch keine Henle-Ausgabe. Und wenn aufgrund der Quellenlage ein Schnabel oder ein Serkin abweichende Textvarianten spielen, die vielleicht nicht stimmen, ist das egal. Denn es kommt hier auf die interpretatorische Leistung an.“ Der Text sei zwar das Handwerkszeug, sagt Korstick, aber kein Selbstzweck. „ Für mich ist es ein viel größeres ,Verbrechen‘, wenn man den Text erstklassig recherchiert hat und dann langweilig spielt.“

Selbstverständlich spielt Korstick Beethoven auf dem modernen Konzertflügel. „Beethovern hätte wohl gejubelt, wenn ihm ein moderner Steinway zur Verfügung gestanden hätte“, sagt er. „Sein Leben lang beschwerte er sich doch über die miserablen Duchhaltequalitäten der Instrumente seiner Zeit. Und er war auch utopisch: Er hat Sachen geschrieben, die auf den Hammerflügeln gar nicht so zu spielen waren.“

Bereits als Student hat sich Korstick mit historischen Klavieren beschäftigt, auf Beethovens Flügel im Wiener Haus auf der Mölkerbastei geübt, auch auf dem Hammerflügel von Conrad Graf im Bonner Beethoven-Haus. „Eigentlich sollte kein Pianist Beethoven spielen, ohne zu wissen, wie es auf den Hammerflügeln geklungen hat. Mann muss ganz bestimmte Sforzati oder Pedaleffekte einfach mal auf ihre Wirkung hin überprüfen. Dann stellt man fest, dass man das nicht alles ohne Weiteres auf einem modernen Konzertflügel so machen kann, sondern neue Methoden finden muss, um den Effekt, den Beethoven auf seinen Hammerflügeln erzielt hat, auf den modernen Flügeln zu transponieren. Da ist schon ein bisschen Gedankenarbeit erforderlich.“

Gedankenarbeit – wer Michael Korstick begegnet, merkt schnell, dass dieser Mann hochintelligent ist. Er wirkt zudem kompromisslos, selbstbewusst, eher ehrlich als diplomatisch. Wenn er überhaupt mal über Kollegen ins Schwärmen gerät, sind diese zumeist tot. Horowitz ist so ein Fall: „Ich habe Horowitz allein drei Mal noch live mit seiner Rachmaninow-Sonate gehört und zwei Mal mit dem dritten Klavierkonzert. Und wenn Horowitz eines seiner berühmten Fortissimi ansteuerte – und er ging damals schon auf die 80 zu –, dann war das wirklich wie ein Erdbeben.“

Wie Horowitz hat auch Korstick sich eine eigene Fassung von Rachmaninows zweiter Sonate erstellt. „Rachmaninow hat ja selbst gesehen, dass die erste Fassung von 1913 so nicht funktioniert, wie er sie komponiert hatte. In der Revision ist er aber in seiner Selbstkritik weit übers Ziel hinausgeschossen. Er hat zwar die Schwächen beseitigt. Nur hat er in dem Versuch, das Stück leichter und spielbarer zu machen, die pianistische Textur zu sehr gelichtet. Dadurch hat die Sonate sehr viel an Klang eingebüßt. Noch viel unglücklicher finde ich, dass er bei den Übergangspassagen versucht hat zu sparen. Er hat längere Entwicklungen quasi mit der Schere herausgeschnitten und durch kurze modulatorische Phrasen ersetzt. Dadurch ist das Stück sehr unorganisch geworden.“

Rachmaninow, so Korstick, habe nach einer Art Baukastenprinzip komponiert. Als Folge sei es eine der Hauptaufgaben des Pianisten, aus den Teilen ein Ganzes zu formen. „Für ihn hat dieses Baukastenprinzip funktioniert, weil er als Interpret genau wusste, wie es zu handhaben war. Und obwohl Rachmaninow nicht zu meinen Lieblingspianisten zählt, muss ich sagen, dass bei ihm nie die Form ins Wanken geriet, wenn er eigene Stücke spielte.“

Auch bei Korstick klingt Rachmaninow wie aus einem Guss. Er zeigt Sinn für große Steigerungen, für aufwühlende wie für lyrische Momente. Und er lässt dem Flügel einen wunderbaren Klang entströmen. Wie macht er das bloß? „Wenn ich gefragt werde, wie ich Triller spiele, kann ich das nicht erklären, weil ich Triller immer schon sehr leicht, mit einer hohen Tonfrequenz spielen konnte. Ich musste mir das also nie erarbeiten, musste mir folglich auch nie Gedanken darüber machen, wie ich das tue. Beim Klang ist das ähnlich. Man kann den bis zu einem gewissen Grad beeinflussen, aber eben auch nur bis zu einem gewissen Grad.“

Natürlich braucht man, um diesen Klang aufzunehmen, einen guten Tonmeister – wie Bernhard Hanke. Außerdem den passenden Raum: „Der Saal hier im Congresscentrum Pforzheim hat eine ganz wunderbare Qualität für Aufnahmen, weil der Klang sich aus dem Flügel sehr ebenmäßig in das akustische Ambiente verteilt. Das heißt: Der Flügelton füllt den gesamten Saal auf eine sehr organische Weise, so dass selbst das Verklingen ästhetisch schön ist. Das ist eine Qualität, die nur sehr wenige Säle haben. Deshalb halte ich den Saal gerade für groß angelegte Stücke wie die Hammerklaviersonate oder Werke von Liszt und Rachmaninow für besonders geeignet.“

Als Zugabe spielt Korstick in Pforzheim Chopins Nocturne cis-Moll ein, die durch Roman Polanskis Film „Der Pianist“ einer breiten Öffentlichkeit bekannt geworden ist (vgl. FF 11/02). Der Pianist und Komponist Wladyslaw Szpilman wiederum, das Vorbild für den Film, hat 1940 ein Gershwin-nahes Concertino für Klavier und Orchester geschrieben, das Michael Korstick im Oktober 2003 mit den Nürnberger Symphonikern und John Axelrod spritzig-zupackend aufgenommen hat. „Das Studio Franken des Bayerischen Rundfunks, das in Nürnberg sitzt, ist mein längster Rundfunk-Partner“, so Korstick. „Mit den Redakteuren dort arbeite ich bereits seit Ende der 1980er Jahre eng zusammen. Und es ist schon allein deshalb eine besonders wunderbare Zusammenarbeit, weil die ihre Klavieraufnahmen in der Regel in der Meistersingerhalle in Nürnberg machen, was die Voraussetzung für klanglich sehr schöne Aufnahmen schafft. Ich habe dort sehr viel aufnehmen können, beispielsweise von Liszt die Transzendentalen Etüden, die kompletten ,Années de pèlerinage’ und das gesamte Spätwerk.“ Seine Einspielung von César Francks „Prélude, Fugue et Variation“ wiederum, die FONO FORUM erstmals auf CD präsentiert, sieht Korstick „so ein bisschen als Krönung“ dieser Partnerschaft an. „Diese Aufnahme höre ich wirklich mit einem so großen Vergnügen, als hätte sie jemand anders gespielt.“

Eine besondere Bedeutung für den Pianisten besitzt auch der Mitschnitt von Scarlattis E-Dur-Sonate, der die CD beschließt: „Im Englischen gibt es den Begriff des ,signature piece‘. Diese Sonate ist quasi meine Unterschrift unter einen Klavierabend. Denn ich spiele sie seit fast 30 Jahren immer als meine erste Zugabe.“

Aber warum musste es ausgerechnet dieser Mitschnitt aus Santiago de Chile sein? Mit einem völlig verstimmten Flügel? „Ich möchte den Flügel damit entschuldigen, dass ich darauf vorher das dritte Klavierkonzert von Rachmaninow gespielt hatte. Dass die Stimmung danach völlig aus dem Leim war, kann jeder nachvollziehen. Aber gerade wenn man so ein Monsterstück gespielt hat, stellt eine Scarlatti-Sonate für den Pianisten eine Befreiung dar. Man befindet sich auf der einen Seite noch auf einem Höhenflug, aber auf der anderen Seite setzt bereits eine gewisse Entspannung ein. In diesem Moment kann die Inspiration ungehindert zuschlagen. Das sind dann wirklich Momente, die unwiederholbar sind. Und es ist doch schön, dass Leute, die bisher nur meine CDs kennen, mich auf diese Weise auch einmal live erleben können.“

Biographie

Michael Korstick wird am 30. April 1955 in Köln geboren. Mit neun Jahren erhält er den ersten Klavierunterricht. Nach dem Abitur studiert er in Köln bei Jürgen Tröster und in Hannover bei Hans Leygraf. 1975 gibt er sein Konzertdebüt mit Beethovens Sonaten op. 106 und 111. Er besucht die Meisterklasse von Tatiana Nikolaieva in Moskau. 1976 spielt er in New York Beethovens »Hammerklaviersonate« in Kombination mit den »Diabelli-Variationen. Von 1976 bis 1983 beschließt er seine Studien an der Juilliard School bei Sascha Gorodnitzki. Korstick erhält in den folgenden Jahren Preise und Auszeichnungen u. a. beim Beethoven-Wettbewerb Wien, beim »Reine Sofia«-Wettbewerb Madrid, beim Tschaikowsky-Wettbewerb Moskau und beim Internationalen Musikwettbewerb Montréal. 1992 leistet er die Chilenische Erstaufführung des Klavierkonzerts von Samuel Barber, im folgenden Jahr spielt er mit dem Orquesta Sinfónica de Chile an einem Abend beide Brahms-Konzerte. Weitere Konzerte und Tourneen führen ihn nach Mexiko, Korea, Andalusien und Marokko. Aus Anlass der Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag von Claudio Arrau spielt er 2003 in Santiago de Chile einen Beethoven-Zyklus. In Deutschland wird er vor allem durch seine CD-Aufnahmen bekannt, die in Musikmagazinen und Feuilletons durchweg hervorragende Kritiken erhalten. Für seine Einspielung von Schuberts letzter Klaviersonate wird Korstick in diesen Tagen mit einem „Echo Klassik“-Preis ausgezeichnet.

CD Tipp

Beethoven, Diabelli-Variationen op. 120; Haydn, Variationen f-Moll Hob XVII Nr. 6 (2004); Oehms Classics/Codæx CD 532