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Politik

"Direkte Sanktionen gegen die Türkei wären kontraproduktiv"

20. Oktober 2017

Die EU sollte die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei nicht abbrechen. Damit verlöre sie ihre Einflussmöglichkeiten, sagt die Politologin Alexandra Stiglmayer.

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Belgien EU-Türkei: Erdogan trifft Tusk und Juncker
EU - Türkei : Ein schwieriges Verhältnis. Der Türkische Präsident Erdogan zwischen EU-Kommissionspräsident Juncker (li.) und EU-Ratspräsident Tusk (re.)Bild: Reuters/F. Lenoir

Auf dem EU-Gipfel in Brüssel haben die europäischen Staats- und Regierungschefs signalisiert, dass sie die Beziehungen zur Türkei nicht kappen wollen. Auch die Beitrittsoption soll beibehalten werden. Wie bewerten sie die Position der EU zur Türkei?

Alexandra Stiglmayer: Der Rat - also die Mitgliedsstaaten - sind mit Blick auf die Türkei sehr zerstritten. Es ist schwierig, da einen Konsens zu finden. Laut Angela Merkel hat der Rat jetzt beschlossen, die Kommission darum zu bitten, die Vorbeitrittsbeihilfen zu kürzen. Wirtschaftlich wird das nicht sonderlich bedeutend sein. Es ist vor allem ein Ausdruck der Unzufriedenheit der EU mit der Türkei, und es wird der Türkei nicht sehr wehtun. Sie ist auf diese Hilfe nicht angewiesen. Es könnte am Ende sogar Munition für Erdogans verbale Attacken gegen die EU liefern. Aber es wird sicherlich keinen politischen Umschwung in der Türkei erzeugen. Aber es ist eben ein Signal, und das ist manchmal auch wichtig.

Könnten denn auf dieses Signal unter Umständen auch noch Sanktionen folgen?

Mit Wirtschaftssanktionen würde die EU sich selbst und vielen ihrer Unternehmen und natürlich der türkischen Bevölkerung schaden. Man könnte natürlich die Verhandlungen abbrechen. Aber das wäre ein Fehler, weil es nicht so einfach wieder rückgängig zu machen wäre. Zypern hat sich mittlerweile ja sehr gegen die Türkei positioniert. Das wird auch so bleiben, solange der Konflikt dort nicht gelöst ist. Das heißt, auch dann, wenn die Türkei in einigen Jahren wieder ein demokratisches, reformbemühtes Land werden sollte, würde Zypern gegen eine Wiederaufnahme der Verhandlungen stimmen. Bräche man jetzt die Verhandlungen ab, würde es sie für die nächsten zehn, zwanzig Jahre kaum mehr geben. Eben das fürchten viele EU-Mitgliedsländer.

Warum?

Alexandra Stiglmayer
Alexandra StiglmayerBild: privat/Alexandra Stiglmayer

Aus vielen Gründen. Es gibt das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei, das dafür gesorgt hat, dass weniger Flüchtlinge über die Türkei in die EU kommen. Zudem ist die Türkei für die EU der fünftgrößte Handelspartner - umgekehrt ist die EU für die Türkei der größte Handelspartner. Aus der EU kommen über die Hälfte - in günstigen Jahren sogar bis zu 70 Prozent - der ausländischen Investitionen in die Türkei. Zudem leben in der EU viele Türken. Außerdem brauchen wir die Türkei bei der Bekämpfung des Terrorismus; auch bei Verteidigung und Sicherheit spielt sie eine bedeutende Rolle. All dies wollen die EU-Mitgliedsländer nicht aufs Spiel setzen. Und sie hoffen, dass die Türkei eines Tages - vielleicht unter einer anderen Regierung - wieder zurück zum Annäherungskurs an die EU findet.

Und umgekehrt? Hat die EU Möglichkeiten, Druck auf die Türkei auszuüben?

Derzeit hat sie nicht viele Optionen. Sie kann nicht viel mehr tun als mit der Türkei dort zusammen zu arbeiten, wo es geht, wo es, wie beim Flüchtlingsabkommen, keine Probleme gibt. Auch wäre es wichtig, die gemeinsame Zollunion zu erneuern. Es müsste darum gehen, die Zollunion zu erweitern. Dies würde mehr Handel auf beiden Seiten erzeugen. Aber Deutschland ist derzeit dagegen.

Ein für Deutschland zentrales Thema im Verhältnis zur Türkei ist ja die Flüchtlingsfrage. Die Türkei lässt kaum mehr Flüchtlinge über das Mittelmeer passieren. Welche Rolle spielt dieses Thema in den anderen Staaten?

Es ist für die gesamte EU wichtig. Natürlich hat Deutschland die meisten der über diese Route gekommenen Flüchtlinge aufgenommen, aber viele gingen auch nach Schweden, Dänemark, die Niederlande, Österreich. Und die Menschen haben sich ja über Griechenland, den Westbalkan, Österreich, Slowenien bewegt. Bulgarien stand damals zwar etwas im Abseits, fürchtet sich aber natürlich auch vor einer neuen Flüchtlingswelle. Natürlich wollen dann auch die anderen Länder in der EU in dieser Frage Solidarität zeigen. Jetzt kommt es darauf an, dass man für die Flüchtlinge in der Türkei wieder drei Milliarden Euro findet, denn das war ein Teil des Abkommens. Die Türkei sollte zweimal drei Milliarden Euro bekommen. Ich hoffe, dass dieses Geld gefunden wird, denn es geht größtenteils um die Flüchtlinge in der Türkei. Die Gelder haben deren Situation wirklich verbessert. So gehen jetzt etwa hunderttausende syrischer Kinder mehr in die Schule - vor zwei Jahren taten sie das noch nicht. Darum muss man jetzt weiter Solidarität mit der Türkei zeigen, die ja derzeit Millionen syrische Flüchtlinge versorgt. 

Noch einmal zurück zum Thema Sanktionen: Wenn die EU sich hier zurückhält, heißt das dann nicht, dass Erdogans rüder Kurs sich am Ende durchgesetzt hat?

Derzeit stehen ja die Vorbeitrittshilfen in der Diskussion. Die könnten nicht nur gekürzt, sondern auch umgeleitet werden, und zwar in Richtung der Zivilgesellschaft. Man könnte etwa unabhängigen Medienorganisationen mehr Geld zukommen lassen. Oder man könnte Visa-Erleichterungen etwa für Geschäftsleute, Studenten, Menschenrechtler schaffen. Damit könnte die EU zeigen, auf wessen Seite sie steht. Direkte Sanktionen wären aber kontraproduktiv. Zudem wünschen sich sehr viel Teile der Bevölkerung eine Rückkehr zur Demokratie und zum EU-Kurs - viel mehr als es zu sagen wagen. Insofern sind die europäischen Hoffnungen auf eben diese Entwicklung durchaus berechtigt. Zwar haben viele türkische Bürger derzeit erhebliche Angst, wegen all der "Säuberungen", die derzeit laufen. Aber ich glaube, dass die Türkei unter eine neuen Führung sehr leicht wieder auf einen guten Weg finden würde.

Alexandra Stiglmayer ist Gründungsmitglied der European Stability Initiative (ESI). Dort arbeitet sie in erster Linie zum Balkan, der Türkei und Aserbaidschan.

Das Gespräch führte Kersten Knipp.

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika