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Digitaler Mythos mit Geschichte

Aya Bach19. April 2013

Berlin, Café St. Oberholz: Szenelokal der digitalen Bohème, Treffpunkt von Laptop und Lifestyle. Wer ahnt schon, dass der Kult-Ort inspiriert ist von einer 100 Jahre alten Geschichte mit Tanz, Bier und Gratis-Brötchen?

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Innanansicht Café St. Oberholz: Frauen am Laptop. (Foto: Aya Bach)
Berlin Café St. OberholzBild: DW/A. Bach

Das erste Mal wollte ich einfach nur einen Kaffee trinken. Und bin dann wieder rausgegangen. Nicht dass ich kein Geld dabeigehabt hätte. Es war schlimmer. Ich hatte keinen Laptop mit. Unfähig, die virtuelle Welt zu betreten, erschien mir auch der Zutritt zu diesem Café nicht möglich. Irgendwie verschränken sich im Oberholz das digitale und das analoge Leben.

"Wir haben einen virtuellen Türsteher. Wenn jemand gar nicht weiß, worum es geht im Oberholz, wird er vom Anblick der vielen Laptops abgeschreckt. Aber wenn er reinkommt, will er dieses Flair einatmen und irgendwas essen oder trinken – und am besten auch irgendein mobiles Endgerät benutzen", sagt Cafébetreiber Ansgar Oberholz, der nun über die Geschichte des Cafés ein Buch geschrieben hat.

Dorfkneipe im Szene-Bezirk?

Damals, als die Laptops mich abgeschreckt haben, war der Laden ziemlich neu. Ein Blickfang an einem unwirschen Platz, über den ich jahrelang mit dem Rad zur Arbeit gefahren bin. Die Tram quietscht in den Gleisen, meistens ist hier irgendeine Baustelle.

Café St. Oberholz. (5. Januar 2011) Abgerufen unter: http://www.flickr.com/photos/teezeh/5335834886/. Copyrigth: by-nc-sa/teezeh
Historischer Raum, neu belebt: Die Beletage im OberholzBild: by-nc-sa/teezeh

Ich habe jede Veränderung an Rosenthaler Platz miterlebt. Früher war in dem Eckhaus ein Fast-Food-Laden, später eine Table-Dance-Bar, und plötzlich gab es da so ein seltsames Lokal. Mit Tierfiguren und Sprüchen an den Außenwänden. "Das Leben ist kein Ponyhof". Oder: "Lege nicht alle Eier in einen Korb". Und dann der Name: "St. Oberholz", klingt wie ein bayerisches Dorflokal – ausgerechnet im Szenebezirk Berlin-Mitte, wo sich alles dem urbanen Lifestyle unterwirft?

Startup-Szene und Touristen

Inzwischen steht das Café in allen möglichen Reiseführern. Ein Ehepaar in Popelinemänteln kommt rein, schaut sich ausgiebig um. Ja. Der Reiseführer hat recht. Nahezu alle sitzen vor Klapprechnern eines Herstellers mit Apfel-Logo und gucken ziemlich autistisch auf den Bildschirm. Viele haben Kopfhörer auf. Geredet wird wenig. Und wenn, dann nicht unbedingt deutsch. "Heute spreche ich jeden Tag 30 bis 50 Prozent Englisch", sagt Ansgar Oberholz. Schließlich sind viele Leute aus der amerikanisch geprägten Startup-Szene da, dazu kommen ausländische Touristen.

Das war völlig anders, als Oberholz den Laden 2005 gründete. In seinem Buch "Für hier oder zum Mitnehmen?" erzählt er von der Zeit, als er um jeden einzelnen Gast kämpfen musste. Berlin-Mitte – früher ein Teil Ostberlins - war zwar längst ein hippes Quartier. Nur nicht gerade am rauen Rosenthaler Platz. Zu den wenigen Gästen der Anfangszeit zählten regelmäßig Obdachlose und Junkies – und solche, die noch ein Stück vom alten Osten verkörperten. So wie der Handwerker, der im Buch den Namen "Klamotte" trägt oder die "Zwillinge aus dem Nagelstudio" um die Ecke. Menschen, die keinen Mac in der Umhängetasche hatten, dafür aber das Herz auf dem rechten Fleck.

Ansgar Oberholz, Betreiber des St. Oberholz, vor seinem Café. (Foto: Aya Bach)
Zwischen digitaler und analoger Welt: Ansgar OberholzBild: DW/A. Bach

"Jeden Tag 'ne Klopperei"

Manche Gäste, verrät Oberholz, erzählten anfangs noch von der DDR-Zeit, als der Laden eine so genannte HO-Gaststätte war: "Da gab es jeden Tag ne Klopperei". Aber es wurde auch gefeiert: "Wir hatten damals immer alte Leute hier, die reinkamen und gesagt haben, 'ick hab hier oben noch jetanzt und ick kenn dit noch als Aschinger.'" Für Kenner hat der Name Aschinger noch heute einen mythischen Klang mit Kulturfaktor: Die süddeutschen Brüder Aschinger gründeten ab 1892 in Berlin eine Reihe von Bierhallen und läuteten eine neue Äre der Gastronomie-Geschichte ein.

Aschinger: Innovative Gastronomie

Denn bei Aschinger konnte man zwischen mehreren Biersorten wählen – ein Novum für Berlin. Schrippen, also Brötchen, gab es gratis dazu. Ein mutiges und innovatives Konzept: "Die haben angefangen, kleine, schnelle Speisen zu verkaufen und haben damit eine neue Zielgruppe angesprochen: den Angestellten-Typus, der gerade aufkam. Dazu zählten auch viele Frauen. Die Arbeiter hatten ihre Destillen, das Bürgertum hatte seine Restaurants. Aber diese neue Form des Angestelltentums hatte nicht wirklich einen Ort", sagt Ansgar Oberholz. Aschingers "9te Bierquelle" wurde ein Stück Inspiration für ihn, 100 Jahre weitergedreht: "Wir haben tatsächlich von Anfang an bedacht, dass wir Freelancern und Medienschaffenden einen Ort geben wollten."

"Für hier oder zum Mitnehmen?", das Buch von Ansgar Oberholz, zum Verkauf im Café (10.04.2013), Foto: Aya Bach
"Für hier oder zum Mitnehmen?" - das Buch von Ansgar OberholzBild: DW/A. Bach

Bohème vor 100 Jahren

Ein Hauch Bohème gehörte übrigens schon vor 100 Jahren dazu. Unter den Stammgästen: George Grosz, der Künstler, der die Abgründe des modernen Großstadt-Leben auf Papier und Leinwand brachte. Und der Schriftsteller Alfred Döblin. Er setzte dem "Aschinger" in seinem weltberühmten Roman "Berlin Alexanderplatz" ein literarisches Denkmal. Ein Grund mehr für Ansgar Oberholz, in seinem Café an die Geschichte anzuknüpfen: Es war "das Gefühl, dem Haus etwas zu schulden". Nicht zuletzt wegen der ungewöhnlichen Architektur: Der hohe Raum mit großzügiger Galerie, die weite, hölzerne Wendeltreppe, die koketten, spitz zulaufenden Fenster.

Historisches s/w-Bild des Hauses Rosenthaler Straße 72a in Berlin-Mitte. Um 1900 war hier "Aschingers 9te Bierquelle".
Legendär: Aschingers 9te Bierquelle um 1900Bild: cc

Dass sich in diesem historischen, später mehrfach umgebauten Haus lauter Startup-Groupies versammeln würden, war nicht geplant. Allerdings gab es von Anfang an WiFi gratis und genügend Steckdosen für durstige Laptops: So wie Aschinger die Brötchen zum Bier spendierte, verschenkte Oberholz Strom und Internet – als die meisten Cafés noch knauserig damit waren. "Aber wir hätten nicht gedacht, dass das unser Alleinstellungsmerkmal würde", sagt er. "Selbst Leute, die uns aus der Startup- und Coworking-Szene aus San Francisco besuchen, stehen staunend da und sagen, hey, das ist wirklich das Krasseste, was ich in der Richtung bisher gesehen habe".

Twitter-Gag: Im Oberholz ohne Laptop

Diesmal sitze auch ich mit meinem Laptop da. Und bin trotzdem peinlich: Das Ding ist vom falschen Hersteller. Dann kommt ein Bekannter von mir rein, der zwar das richtige Fabrikat hat, aber ein ziemlich uncooles Outfit. Sehr streng ist der virtuelle Türsteher glücklicherweise nicht. "Auf Twitter ist es ein running gag, dass Leute sagen, ich setz mich ins Oberholz ohne Laptop und nehme ein Buch mit oder so", erzählt der Chef. "Wir haben auch einen amerikanischen Stammgast. Er ist Komponist und schreibt mit der Hand auf einer Riesenpartitur". Die analoge Geschichte, sie hat ihre Spuren an diesem digitalen Ort hinterlassen.

Das Buch von Ansgar Oberholz "Für hier oder zum Mitnehmen?" ist im Ullstein Verlag erschienen, hat 240 Seiten und kostet 14,99 €