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"Diese Flut sprengt jede Grenze"

9. August 2010

Thomas Schwarz ist für die internationale Hilfsorganisation CARE in den Überschwemmungsgebieten im Nordwesten Pakistans unterwegs. Im Interview mit DW-WORLD.DE schildert er seine Eindrücke.

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Zwei Pakistaner kämpfen sich durch die Fluten (Foto:ap)
Zwei Pakistaner kämpfen sich durch die FlutenBild: AP

DW-WORLD.DE: Herr Schwarz, Sie sind derzeit unterwegs im Nordwesten des Landes, also dort, wo die Überschwemmungen ihren Anfang genommen haben. Wie erleben Sie die Situation derzeit vor Ort?

Thomas Schwarz: Die Situation stellt sich mir so dar, als wäre gestern erst alles passiert. Man hat wirklich den Eindruck, dass sich in manchen Dörfern und Gemeinden noch nicht sehr viel getan hat. Ich finde, dass das nach elf Tagen dieser schweren Fluten und diesen hässlichen Monsuns auf jeden Fall besser aussehen könnte.

Was brauchen die Menschen, mit denen Sie gesprochen haben, denn derzeit am nötigsten?

CARE Thomas Schwarz
CARE-Pressesprecher Thomas Schwarz (re.)Bild: CARE

Alle, die noch keins haben, fragen nach einem Zelt, nach einer Unterkunft für die, die ihre Häuser verloren haben oder deren Häuser so zerstört sind, dass man nicht mehr darin leben kann. Das ist das, wonach alle sofort fragen: Wo bleiben die Zelte? Warum geht das so langsam? Warum kommen nicht mehr? Das nächste ist der einfache Dreisatz, und das ist eben sauberes Wasser, damit die Menschen Wasser trinken können und nicht gezwungen sind, das stehende Wasser, das um sie herum ist, zu trinken. Das Zweite ist, sie brauchen unbedingt eine medizinische Betreuung für Notfälle, die kaum gegeben ist. CARE hat zwar mit Hilfe von Maultieren und Eseln einige Medikamente ins Swat-Tal bringen können - unter anderem zu Frauen, die schwanger waren und nicht mehr ins Krankenhaus gehen konnten zum Entbinden, aber es muss eine viel schnellere medizinische Versorgung gewährleistet sein. Und das Dritte ist eindeutig Nahrung. Wir erleben hier, dass die Felder überschwemmt sind und das ist ja im Süden, im Punjab, sozusagen in der Kornkammer des Landes, noch viel schlimmer. Das ist das, was die Menschen hier ganz dringend brauchen. Hört sich viel an, ist auch viel, aber es wird hier dringend benötigt.

Die Menschen fragen, warum die Hilfe nicht ankommt. Das liegt natürlich auch daran, dass die Infrastruktur komplett zerstört ist: Die Straßen sind kaputt, Brücken sind eingestürzt. Wie schwieirg ist es unter diesen gegebenen Bedingungen, tatsächlich effektiv zu helfen und die Menschen auch tatsächlich zu erreichen?

Wenn ich die Bilder im internationalen Fernsehen sehe, auch im deutschen Fernsehen oder aus den Zeitungen, dann sieht man meistens den Blick von oben und die überschwemmten Gebiete. Das entspricht natürlich auch der Wirklichkeit, das ist ja auch eine gigantische Überschwemmung. Auf der anderen Seite gibt es den Highway No. 1, den wir von Islamabad aus in den Nordwesten gefahren sind. Da ist im Grunde genommen überhaupt nichts zerstört. Und auch die Dörfer, in die wir jetzt seitlich eingebogen sind, sind zu erreichen, sonst hätten wir mit unserem Auto dort nicht hinfahren können. Und selbst da gibt es - wie ich finde, auch berechtigte - Beschwerden, dass Hilfe einfach viel zu langsam ankommt.

Mädchen verkauft Tomaten auf einem Markt in Lahore (Foto:ap)
Die Preise für Lebensmittel haben sich in Pakistan in den vergangenen acht Tagen verdoppeltBild: AP

Wie groß ist denn die Wut der Menschen tatsächlich? Oder geht es erst mal darum, das eigene Überleben zu sichern?

Es geht um nicht viel weniger als darum, das Leben und Überleben zu sichern. Ich bin gestern in Islamabad auf einem Markt gewesen und habe mir die Preise angeguckt für Tomaten, Zwiebeln, die üblichen Sachen, die die Menschen brauchen. Kurz vor dem Ramadan wird sowieso immer gerne viel gekauft. Und die Preise für Tomaten und diese Dinge sind eben in den letzten acht Tagen um 100 Prozent gestiegen. Manche nur um 80 Prozent, manche dafür um 110 oder 115 Prozent. Das zeigt, was die Menschen hier auch erleben, nämlich dass die Nahrungsmittel knapper werden, und es gibt bisher keine überzeugende Antwort auf die Frage: Was passiert eigentlich, wenn die komplette Ernte im Süden des Landes ausgefallen sein sollte? Es gibt durchaus eine Angst vor Hunger.

Jetzt hat der pakistanische Regierungschef die Flutkatastrophe mit dem Erdbeben von 2005 verglichen und die jetzige Lage als noch dramatischer eingestuft. Damals starben mehr als 75.000 Menschen. Ist der Vergleich Ihrer Meinung nach treffend? Oder kann man diese beiden Naturkatastrophen eigentlich nicht miteinander in Verbindung bringen?

Viele Pakistaner hatten sich kaum vom schweren Erdbeben 2005 erholt (Foto:ap)
Viele Pakistaner hatten sich kaum vom schweren Erdbeben 2005 erholtBild: AP

Ich war ja selbst auch 2009 in Pakistan im Erdbebengebiet und habe dort die Zerstörung gesehen. Ich finde es immer sehr schwierig, eine Katastrophe mit der anderen aufzurechnen. Was man sicher sagen kann, und was ich auch bestätigen würde, ist, dass das Ausmaß für das gesamte Land unvergleichlich größer ist. Es gibt bei weitem nicht so viele Todesopfer, das ist richtig. Aber wenn Sie sich das Ausmaß ansehen, dann ist das schon eine extreme Katastrophe. Was ich hier sehe, das sprengt bisher jede Grenze, die ich hatte.

Was sind die eindrücklichsten Bilder, die Sie mitgenommen haben aus dieser Katastrophe?

Das schlimmste Bild war gerade vor ein, zwei Stunden, als ich in einem Dorf war, um mir dort die Zerstörung anzusehen, und eine Frau mich bat, in ihr Haus zu kommen. Ich sah einen vierjährigen Jungen auf dem Lehmboden des Hauses liegen, der fast regungslos, nur leicht atmend dort lag und von dem mir gesagt wurde, er habe ein Lungenproblem. Für ihn konnte nichts getan werden, weil weit und breit kein Arzt da ist. Das ist schlimm, einfach ganz schlimm. Und als wir zurückgefahren sind, hat ein Mann mit einem kleinen Auto die Straße blockiert, weil er uns zwingen wollte, dass wir uns ansehen, wie furchtbar es bei ihm aussieht. Wer so verzweifelt handelt, der drückt mehr aus, als man überhaupt mit Worten sagen kann.

Nun trifft die Katastrophe Menschen, die sich gerade eben erholt haben von der letzten Katastrophe, denn im Frühjahr 2009 flohen im Swat-Tal Millionen Bewohner vor den Kämpfen zwischen Armee und Taliban. Sie selbst waren ja damals für CARE auch vor Ort und haben geholfen. Und viele dieser Flüchtlinge waren gerade erst zurückgekehrt und stehen praktisch wieder vor den Trümmern ihrer Existenz. Was bedeutet das auch psychologisch für die Menschen, innerhalb von kurzer Zeit praktisch gleich zweimal bei Null anfangen zu müssen?

Das bedeutet, dass man ganz, ganz stark sein muss, wenn man das überhaupt aushalten will. CARE diskutiert hier in Pakistan, sehr bald ein psychosoziales Programm zu beginnen, vor allem für Kinder, die diese ganzen Erlebnisse verarbeiten müssen. Jugendliche und Frauen sind extrem betroffen hier. Wir bewegen uns hier ja in den Regionen, in denen die Allerärmsten der Armen leben. Da muss viel geschehen und psychologische Hilfe geleistet werden. Ich kann überhaupt nicht nachvollziehen, warum die reichen Länder derart zögerlich sind mit Hilfe für dieses Land, das großartige, freundliche Leute hat und wo so viele Millionen arme Menschen von einer Naturkatastrophe betroffen sind, für die sie nichts können. Wir sind jetzt am Tag 12 oder 13 dieser Katastrophe, und ich sehe immer noch Gebiete, die einfach zu erreichen wären, in denen es nicht einmal Zelte gibt.

In Scharen fliehen die Menschen aus den Katastrophengebieten im Nordwesten Pakistans (Foto:ap)
In Scharen fliehen die Menschen aus den Katastrophengebieten im Nordwesten PakistansBild: AP

Nun dauert die Katastrophe natürlich noch an. Kann man schon ansatzweise absehen, wie lange das Land noch nach dieser Flut auf Hilfe angewiesen sein wird? Wie weit dieses Wasser Pakistan zurückgeworfen hat?

Ich gehe davon aus, dass die unmittelbare Nothilfe sicher noch zwei, drei Monate geleistet werden muss. Dann beginnt sozusagen die Instandsetzung, dann beginnt aber auch die Arbeit, die man wirklich Entwicklungsunterstützung nennen kann, indem man versucht, gemeinsam mit den Menschen Bauweisen zu entwickeln, die den Wassermassen stärker standhalten. Es gibt natürlich Häuser, die kaum oder gar nicht beschädigt sind, aber das sind eben Häuser, die nicht nur mit Steinen und sehr einfachem Lehm zusammengehalten wurden, sondern die sind von Leuten gebaut worden, die sich guten Zement leisten können. Der hält bekannterweise Steine besser zusammen. Das ist ein Beispiel für das, was in Pakistan getan werden muss. Man muss meines Erachtens die Menschen in die Lage versetzen, sich vor solchen Katastrophen besser zu schützen. Man muss sicher überlegen, was an weiteren Hochwasserschutzmaßnahmen getroffen werden kann. Ich glaube, dass ganz viel Arbeit vor Pakistan liegt, und bis das alles erledigt ist, was hier kaputt gemacht worden ist, werden sicher drei, vier, fünf Jahre ins Land gehen.

Die Fragen stellte Esther Broders.
Redaktion: Thomas Latschan

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