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Die Weichmacher kommen

Thomas Kohlmann16. Februar 2003

Der europäische Stabilitätspakt steht erneut zur Disposition: Zuerst war es das Hochwasser, jetzt soll der drohende Irak-Krieg als Begründung für höhere Schulden herhalten.

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Mehr Flexibilität beim Stabilitätspakt, bitte!Bild: AP

Behält Byron Wien Recht, dann wird der deutsche Bundeskanzler noch in diesem Jahr zurücktreten. Und nicht nur das: Der einflussreiche US-Investmentbanker prophezeit, dass die europäische Gemeinschaftswährung schon im Jahresverlauf am Rande des Abgrunds stehen wird. Weil die anderen Euro-Staaten mit ihrem Austritt gedroht haben. Sie wollen sich vom schwächelnden Deutschland wirtschaftlich nicht länger ausbremsen lassen. Wien von der Investmentbank Morgan Stanley, der dieses drastische Szenario entwirft, ist an der Wall Street für seine Jahresprognosen bekannt. 2002 lag er mit sieben seiner zehn Voraussagen richtig.

Auch wenn der Kanzler zurzeit außenpolitisch alles dafür tut, einen Irak-Krieg noch in letzter Minute zu verhindern – haushaltspolitisch scheinen Gerhard Schröder und Hans Eichel einen Krieg im Nahen Osten billigend in Kauf zu nehmen. Und so ließen der Bundeskanzler und sein Finanzminister schon einmal durchblicken, dass die Einhaltung der Drei-Prozent-Obergrenze in diesem Jahr nur zu machen sei, "wenn es nicht in Folge eines Irak-Krieges weitere Einbrüche gibt". Schließlich, so Schröder, habe sogar die EU-Kommission erkennen lassen, dass der Stabilitätspakt neu interpretiert werden müsse. Für die konservative "Frankfurter Allgemeine Zeitung" ein gefundenes Fressen: "Schröder, der erklärte Kriegsgegner, würde im politischen Sinne zum Kriegsgewinnler."

Außergewöhnliche Umstände

Laut Stabilitätspakt darf die Neuverschuldung der Mitgliedstaaten nicht die Grenze von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts überschreiten. Das Vertragswerk sieht aber vor, dass "im Falle außergewöhnlicher Umstände angemessene Maßnahmen ergriffen werden können." Bei diesen außergewöhnlichen Umständen hatten die Schöpfer des Stabilitätspaktes vor allem an eine Rezession gedacht. Jetzt glauben aber immer mehr Politiker – vor allem aus den von hohen Schulden geplagten Ländern Deutschland, Frankreich und Italien – die immerhin zwei Drittel der Wirtschaftsleistung im Euro-Raum auf die Beine stellen - , dass auch im Falle eines Krieges die Defizit-Sünder auf mildernde Umstände hoffen dürfen. Und sie fühlen sich durch EU-Währungskommissar Pedro Solbes bestärkt, der verkündete: "Wenn ein Krieg keinen außergewöhnlichen Umstand darstellt, frage ich, was sonst ein außergewöhnlicher Umstand sein kann."

Kritik von den Musterschülern

Besonders die kleineren Euro-Staaten wie Luxemburg oder die Niederlande sehen dem verbalen Aufweichen der Stabilitätskriterien durch deutsche und französische Politiker mit gemischten Gefühlen entgegen. "Das erste Opfer des Kriegs wäre der Stabilitätspakt", ist der luxemburgische Europa-Abgeordnete Robert Goebbels überzeugt. "Es gibt die Gefahr, dass der Krieg als Vorwand genommen wird, die Maastricht-Kriterien zu unterlaufen", sagt auch der Chef des Münchner ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, Hans-Werner Sinn. Die Obergrenze von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Neuverschuldung müsse "sakrosankt" - unantastbar - sein. Sein Argument: Selbst im Falle eines Krieges reicht das Regelwerk von Maastricht aus.

Zeit der Neu-Interpretationen

Unter Volkswirten ist die starre Drei-Prozent-Regelung des Stabilitätspaktes seit langem umstritten. Paul de Grauwe, Wirtschaftswissenschaftler an der niederländischen Universität Leuven, plädiert dafür, die Gesamtschuldenlast eines Landes zu bewerten. Viel zu unflexibel sei das starre Drei-Prozent-Dogma der Euro-Väter. Schützenhilfe bekommt de Grauwe jetzt von neun europäischen Kollegen, die sich unter dem Mantel der "European Economic Advisory Group" zusammengeschlossen haben. Zu der Gruppe europäischer Wirtschaftsberater gehören unter anderem ifo-Chef Sinn, Ökonom Willi Leibfritz von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und Oxford-Wirtschaftsprofessor John Flemming. Sie wollen Ländern mit einer geringen Schuldenlast mehr Spielraum bei der Neuverschuldung lassen.

Doch selbst wenn die Gesamtschulden das Maß aller Dinge in Sachen Stabilität wären, Deutschland hätte schlechte Karten: Mit einem Schuldenstand von rund 62 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), so die "European Economic Advisory Group", könnten sich die Deutschen keinesfalls mehr als drei Prozent Neuverschuldung leisten. Lediglich Länder wie die Niederlande mit einem Schuldenstand von etwa 50 Prozent des BIP oder Finnland mit rund 42 Prozent Staatsschulden würden profiteren: Sie könnten neue Kredite in Höhe von 3,5 bis vier Prozent des BIP aufnehmen.

Vielleicht kommt es aber doch ganz anders und Wall-Street-Prophet Wien behält mit einer anderen Vorhersage Recht: Der Krieg gegen den Irak fällt aus, weil Saddam Hussein in letzter Sekunde doch noch ins Exil geht – nach Libyen.