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Asli Erdoğan: "Dieses Land gehört auch mir"

Ceyda Nurtsch
19. Juli 2017

Vier Monate saß die türkische Autorin Asli Erdoğan im Gefängnis. Einschüchtern lässt sie sich nicht. Es sei ihre Verantwortung zu schreiben, sagt sie. Denn ihre Türkei will sie nicht aufgeben.

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Die Autorin Asli Erdogan
Bild: Getty Images/AFP/O. Kose

Deutsche Welle: Ihr Schreibstil wird häufig mit Kafka verglichen. Dass Sie am 16. August 2016 mitten in der Nacht festgenommen wurden und vier Monate im Gefängnis saßen, ist tragischerweise ebenfalls sehr kafkaesk. Wie erklären Sie es sich, dass Sie als Schriftstellerin von einem Tag auf den anderen inhaftiert wurden?

Aslı Erdoğan: Ehrlich gesagt war auch ich sehr verwundert. Gleichzeitig habe ich es erwartet, man spürt so etwas. Diesen kafkaesken Prozess führe ich auf folgendes zurück: Ich bin keine Kurdin und nicht politisch aktiv. Aber ich habe etwas zur Kurdenproblematik geschrieben. Nach einem Bericht der UNO sind im Südosten 2000 Zivilisten gestorben. Sobald man fragt, wie sie gestorben sind, muss man einen sehr hohen Preis bezahlen. Das sind Versuche, uns sogenannte "weiße Türken" einzuschüchtern: Mischt euch nicht ein, lasst uns mit den Kurden machen was wir wollen, sonst bestrafen wir euch härter als die PKK.

Werden Sie Ihre Erfahrungen im Gefängnis auf literarische Weise verarbeiten?

Auch wenn es sich seltsam anhört, meine Seele ist noch immer im Gefängnis. Die Prozesse werden noch eine Zeit dauern, um mir zu sagen: Wenn Du aufmuckst, gehst Du wieder rein. Schreiben ist das einzige, das ich kenne, um mit diesen Traumata umzugehen. Ich habe noch nicht den Punkt erreicht, wo ich sagen könnte, ich bin draußen und kann meine Wunden heilen. Aber ich fühle mich verpflichtet, alles aufzuschreiben. Die Geschichten der Frauen, die ich dort kennengelernt habe, müssen erzählt werden.

Sie sagten einmal, das, was Sie am stärksten mit der Türkei verbindet, ist die Sprache.  Haben das letzte Jahr seit der Verhängung des Ausnahmezustands und Ihre Erfahrungen im Gefängnis Ihre Sprache verändert?

Das ist eine sehr gute Frage, die mir noch nie jemand gestellt hat. Einer meiner Texte, die in meine Akte aufgenommen wurde, ist ein vollständiger innerer Monolog darüber wie die Gewalt der Außenwelt, der Faschismus die innere Welt und damit unsere Sprache verletzt. Adorno sagte: Nach Auschwitz kann man nicht mehr dichten. Man muss eine Sprache finden, die diese Gewalt widerspiegelt. Das ist nicht leicht. Als ich mich mit dieser Frage beschäftigte, fand ich mich im Gefängnis wieder.

Ist es nicht eine widersprüchliche Situation, dass Sie, während sie in Ihrem Land im Gefängnis sitzen, vom Ausland Preise bekommen?

Das hat bereits früher, um das Jahr 2000 begonnen. Die Zeit im Gefängnis war der Höhepunkt dieses Widerspruchs. Während der Gefängniswärter mich beschimpfte, forderten Abgeordnete im Europaparlament meine Freilassung. Meine Verlegerin ist die derzeitige französische Kulturministerin. Hier aber kann mich ein Polizist schlagen, mich an meinen Haaren zerrend abführen. Ich versuche, das nicht allzu persönlich zu nehmen.

Fühlen Sie sich in Istanbul oder der Türkei noch zuhause? Viele Künstler, Akademiker und Journalisten ziehen es vor, die Türkei zu verlassen.

Ich verurteile niemanden, der wegen seiner persönlichen Sicherheit geht. Im Gegenteil. Ich fühle mich bereits seit 15 Jahren in der Türkei nicht mehr zuhause. Vielleicht sogar seitdem ich auf der Welt bin. Mein Zuhause, meine Heimat, meine Nabelschnur ist die Sprache. Ich bin eine Autorin des Türkischen. Ich liebe es, auf Türkisch zu schreiben und habe ein sehr persönliches Verhältnis zu meiner Sprache. Wäre ich in einem anderen Land, würde dieses Verhältnis zerrüttet. Wenn man die eigene Sprache nicht hört, verliert man ihren Rhythmus, ihren Klang. Exil ist schwer, aber natürlich immer noch besser als Gefängnis. Aber bei mir hat sich ein kindlicher Trotz eingestellt. Je mehr die Leute sagen: Geh doch, will ich bleiben. Ich sage: Dieses Land gehört auch mir! Zum ersten Mal habe ich ein Zuhause. Auch wenn es sehr schwierig geworden ist für Menschen, die auch nur ein bisschen hinterfragen.

Sie wirken wie eine introvertierte Person und waren gleichzeitig immer die Stimme der Unterdrückten. Seit Ihrer Verhaftung stehen Sie auch international im Rampenlicht. Wie ist das für Sie?

Man glaubt ja immer, Schriftsteller wollten berühmt sein. Das mag für viele stimmen. Ich bin immer vor der Aufmerksamkeit weggelaufen. Ich habe geschrieben, um bestimmte Fragen stellen zu können. Aber jetzt muss ich etwas sagen, um meiner eigenen Ethik treu zu bleiben. Ich habe eine Verantwortung, besonders, weil ich gesehen habe, wie es im Gefängnis ist. Ich habe nicht mehr den Luxus zu schweigen. Es ist meine Verantwortung, auch für die Inhaftierten zu sprechen. Aber ausgesucht habe ich mir das nicht. Gerne würde ich an den Tag vor meiner Verhaftung zurückkehren.

Sie haben als Schriftstellerinnen symbolisch am "Marsch für Gerechtigkeit" teilgenommen. Wieso denken Sie, gibt es unter der Opposition keinen Zusammenhalt?

Der Hauptgrund weshalb die Opposition nicht zusammenkommt, ist der türkische und bis zu einem gewissen Grad auch der kurdische Nationalismus. Bei der Kurdenfrage spaltet sich die Opposition. In einer Gesellschaft, die vom chauvinistische Nationalismus beherrscht wird, sind Diskriminierung und Vorurteile nicht weit weg. Das gilt für alle Parteien.

Sie haben gesagt, dass Sie im Gefängnis eine große Solidarität unter Frauen kennengelernt haben. Ist ein Teil des Problems der Türkei, dass in der patriarchalischen Gesellschaft so etwas im Hintergrund bleibt?

Genauso ist es. Meine Inhaftierung und die der 70-jährigen Necmiye Alpay sind darauf zurückzuführen. Kurden und Frauen sind die beiden Gruppen, die davon bedroht sind, alles Errungene wieder zu verlieren. Der chauvinistische Militarismus wird nicht nur von der AKP getragen, sondern auch von denen, die sich als Oppositionelle bezeichnen. In der Gesellschaft ist die Frauenfeindlichkeit tief verankert. Deswegen betrachte ich die Solidarität von Frauen gerne voller Hoffnung. Bei allen Demonstrationen waren die Frauen mutiger als die Männer.

Aslı Erdoğan wurde im August 2016 wegen ihrer Kolumnen in der pro-kurdischen Zeitung "Özgür Gündem" verhaftet. Sie wurde viereinhalb Monate in einem Istanbuler Frauengefängnis festgehalten und aus gesundheitlichen Gründen aus der Untersuchungshaft entlassen.

Das Interview führte Ceyda Nurtsch.


Literaturtipp:
Aslı Erdoğan: Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch. Essays. Albrecht Knaus Verlag, 2017. 192 Seite, ISBN: 3813507807