1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

"Die Studis haben gelernt"

Das Gespräch führte Ina Rottscheidt17. Dezember 2003

50.000 Studenten auf den Straßen: So mancher Politiker beschwört da schon wieder die 68er-Revolten herauf. Dieter Rucht, Soziologe und Streik-Forscher erklärt im DW-WORLD-Interview die neue Studentenbewegung.

https://p.dw.com/p/4SCQ
Wohin geht es mit der Bildung in Deutschland?Bild: AP

Sie flitzen nackt über Weihnachtsmärkte, weil sie symbolisch für ihre Hochschule "das letzte

Hemd" abgeben oder springen in die Spree, weil sie angesichts der rigiden Sparbeschlüsse in den Ländern ihre Bildung "baden" gehen sehen. Allein am vergangenen Wochenende (12. und 13.12.03) waren über 50.000 Studenten in Berlin, Frankfurt oder Leipzig auf der Straße, um gegen überfüllte Hörsäle, schlechte Betreuung, fehlende Literatur und drohende Studiengebühren zu protestieren.

DW-WORLD: Eierwerfer, Nacktflitzer und Straßenbesetzer: Protestiert so die Spaßgesellschaft?

Dieter Rucht: Ich glaube eher, die Studis haben gelernt: Studentischer Streik an Universitäten bringt wenig, weil das Störpotential fehlt, das den Gegner in Bedrängnis bringen könnte. Streikende Studenten richten außerhalb der Uni keinen Schaden an, sondern schneiden sich letztlich nur ins eigene Fleisch, denn sie müssen den Stoff und die Prüfungen nachholen, die sie jetzt verpassen. Darum machen sie jetzt mit kreativen Aktionen auf sich aufmerksam. Diese Generation weiß nur zu gut, wie Medien funktionieren. Aber es droht natürlich das Problem der Abnutzung: Wenn der Hundertste in die Spree springt, knipst keiner mehr seine Kamera an.

Und dann wird zu härteren Mitteln gegriffen? Berlins Ex-Bürgermeister Eberhard Diepgen beschwört schon die Gefahr eines neuen 68er-Protests …

Natürlich besteht die Möglichkeit offensiverer Aktionen im Sinne von "richtigem Stören": Wenn protestierende Studenten Straßenkreuzungen besetzen, dann stehen auch Unbeteiligte im Stau und sind so gezwungen, das Thema zumindest zur Kenntnis zu nehmen. Schlummerndes Gewaltpotenzial ist das aber noch lange nicht. So etwas ist immer eine Frage der Konstellationen und vielleicht auch von falschen Reaktionen der Polizei. Zu Beginn der 68er-Revolten lag auch kein Gewaltpotenzial vor. Dann wurde Benno Ohnesorg erschossen und das hat einen unglaublichen Radikalisierungsprozess in Gang gesetzt. Darum sollte man jetzt aber nicht mit Schwarzmalerei anfangen. Bis jetzt sind die Proteste weitgehend friedlich abgelaufen, für eine Radikalisierung gibt es im Moment keine Anzeichen.

Also eine "Neue Studentenbewegung"?

Auf jeden Fall eine ganz andere als 1968. Damals waren Gesellschaft, Politik, deutsche Vergangenheit und bürgerliche Werte das Objekt der Kritik. Universitäre Verhältnisse waren nur ein Thema unter vielen. Heute, und da ähneln sich die Proteste der 90er Jahre, sind konkrete Missstände an den Universitäten der Anlass. Und die allgemeine Zustimmung, die sie erfahren haben, denn es bestreitet ja keiner in diesem Land, dass Bildung Zukunft bedeutet. Nur ändert das nichts an den leeren Kassen.

In der Schweiz und Frankreich wird gegen europaweit beschlossene Bachelor- und Masterstudiengänge als "Billigstudium" protestiert. Die deutschen Hochschulrektoren liebäugeln auch mit solchen Schnell-Studiengängen für die Masse der Studenten. Zeichnet sich eine europäische Bewegung ab?

Die Tendenzen einer grenzüberschreitenden Bewegung sind schwach. Man kann hier wohl eher von einer gefühlten Solidarität sprechen. Letztendlich wuselt aber jede Bewegung für sich, weil sie ja Druck auf nationale Entscheidungsträger ausüben will. Eine Verbündung oder Druck von außen macht da wenig Sinn.

Sind Sie persönlich vom Studentenstreik betroffen?

In meinem Seminar an der FU haben die Studenten über den "Streikbruch" debattiert und dann mehrheitlich eine Fortführung des Unterrichts beschlossen, aber die nächste Sitzung soll im öffentlichen Rahmen stattfinden, um zu zeigen, dass wir mit den Verhältnissen an den Unis nicht einverstanden sind. Da stehe ich hinter, Bildung sollte immer Priorität haben, aber die Prioritäten der Politik liegen leider im Moment etwas anders.