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Die Straftäter-WG

30. Juli 2009

"Junge Kriminelle gehören weggesperrt" - diese Parolen ertönen häufig, wenn in Deutschland Jugendliche Aufsehen erregende Straftaten verüben. In einem kleinen Dorf in Brandenburg gehen die Behörden ganz andere Wege.

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Landhof Außenansicht (Foto: Svenja Pelzel)
Landluft für 'schwere Jungs' - wer wird denn hier auf böse Gedanken kommen?Bild: Svenja Pelzel / DW

Seit Dezember lebt Stefan nicht mehr im Gefängnis, sondern in der Straftäter–WG auf dem alten Gutshof in Liepe, einem achthundert Seelen Dorf im brandenburgischen Oderbruch. Es ist Sonntag, der 23-Jährige genießt im Hof den Sonnenschein, sieht Mitbewohnern und Betreuer der Wohngemeinschaft beim Tischtennisspiel zu, klopft ein paar Sprüche. Stefan ist groß, sportlich, gut aussehend und hat ein freundliches Lächeln. Auf den ersten Blick würde niemand ihm eine Straftat zutrauen. Doch Stefan hat einiges auf dem Kerbholz: Mehrere Einbrüche, Diebstähle, Körperverletzung, Alkohol- und Drogensucht. Jahrelang kam er mit sozialen Arbeitsstunden und Bewährung davon. 2006 verurteilt ihn ein Richter zu drei Jahren Gefängnis. Zwei davon hat er abgesessen. Die Zeit hat Stefan gut genutzt. Heute ist er trocken und clean. Im Gefängnis macht er eine Ausbildung zum Fliesenleger und wegen guter Führung darf er während seiner letzten zwölf Monate auf dem Lieper Gutshof in einer betreuten WG wohnen.

Stefan hat genug vom Tischtennis-Zuschauen, geht hoch in sein Zimmer. Anders als im Gefängnis sind die Pflanzen hier nicht aus Plastik, die Fenster unvergittert, die Bettwäsche bunt. An die Wände hat Stefan ein paar Poster und Photos seiner Kumpels aus dem Knast geklebt. Für andere Menschen Kleinigkeiten, für Stefan viel wert. "Wenn man so was mal zwei Jahre nicht mehr hatte, dann weiß man wieder zu schätzen, was Freiheit eigentlich heißt".

Eingeschränkter Alltag

Auffahrt zum Landhof (Foto: Svenja Pelzel)
Willkommen ist jeder. Die etwas andere WG wird von den Dorf-Bewohnern gut angenommenBild: Svenja Pelzel / DW

Doch Stefans Freiheit ist auch in der WG stark beschränkt, schließlich gilt er offiziell noch als Gefangener. Jeden Morgen um vier Uhr dreißig heißt es für ihn Aufstehen, fünf Uhr Frühstück, sechs Uhr Abfahrt in Richtung Justizvollzugsanstalt Wriezen. Dort macht er seine Ausbildung bis drei, fährt anschließend wieder im Minibus zurück in die WG. Auf seinem Programm steht jetzt eine Stunde Sport. Das Angebot haben sich die Bewohner selbst erarbeitet: aus einem kleinen Nebengebäude auf dem Gutshof haben sie einen Fitnessraum gemacht, im Garten dahinter das neue Volleyballfeld angelegt, ebenso einen Fußballplatz. Es folgen Abendessen und um 22 Uhr Nachtruhe. Alkohol und Drogen sind absolut verboten, Besuch ein Mal die Woche erlaubt. Trotz aller Strenge ist Stefan froh, die JVA hinter sich zu haben: "Die reden hier anders mit einem, eben nicht wie mit 'nem Gefangenen. Hier wird man eher als Mensch behandelt".

Viele Betreuer

Wie zum Beweis klopft es an seiner Zimmertür. Stefans Betreuerin Martina Schneider schaut kurz vorbei. Auf fünf WG-Bewohner kommen immer zwei Mitarbeiter. Der gute Personalschlüssel ist Absicht. Betreuer und Gefangene kümmern sich gemeinsam um eine Ausbildung, Arbeit und Behördengänge. Sie suchen eine Wohnung für die Zeit danach, einen Sportverein, unternehmen am Wochenende Ausflüge. Mit Erfolg. Bislang wurde keiner der zwölf Entlassenen rückfällig. Darauf ist Martina Schneider stolz: "Wir wollen, dass die Jungs sich auch später noch zurecht finden, helfen ihnen sogar, wenn sie schon ausgezogen sind." "Leben lernen" heißt die WG deshalb folgerichtig.

Wegweiser 'Leben Lernen' (Foto: Svenja Pelzel)
Klarer Kurs für die ZukunftBild: Svenja Pelzel / DW

Am Nachmittag findet im Gutshof mal wieder ein Fest statt. Restaurant, Scheunenladen und zahlreiche Stände sind gut besucht. Bewohner und Betreuer ziehen sich in ihre WG im ersten Stock zurück. Vom offenen Fenster aus beobachtet Martina Schneider, selbst Lieperin, das bunte Treiben. "Unser Gutshof gehört heute zum Dorf dazu", erzählt sie, "doch das war nicht immer so". Vor der Eröffnung hatten alle Angst vor den Straftätern. Mit nur einer Stimme Mehrheit votierte der Gemeinderat 2004 für einen Verkauf des Gutshofes an den Träger der Straftäter-WG - die EJF Lazarus Gesellschaft. Drückende Schulden und sechs neue Arbeitsplätze gaben den Ausschlag.

Keine Angst vor schweren Jungs

Jetzt, zweieinhalb Jahre später hat niemand mehr Angst vor den "schweren Jungs" – im Gegenteil. Immer wieder werden sie gebeten, für ältere Dorfbewohner kleine Hilfsarbeiten zu übernehmen. "Einmal", so erzählt Stefan haben wir einen Komposthaufen umgegraben und dafür zum Dank eine große Torte bekommen".

Es ist Abend geworden. Stefan steht in der hellen Wohnküche der WG, rührt in einem großen Topf Sauce Bolognese. Das Rezept hat er hier gelernt. Ein Mal die Woche ist jeder dran mit Kochen, was Stefan sichtlich Spaß macht. Man merkt dem jungen Mann an, dass er sich in der WG trotz aller Pflichten und Einschränkungen wohl fühlt. "Niemals werde ich das hier aufs Spiel setzen", sagt Stefan während er gelassen weiter rührt, " und noch einmal ins Gefängnis zurückgehen. Auch wenn ich manchmal denke, die Richter hätten mich schneller in den Knast schicken sollen, dann hätte ich schneller was kapiert".

Autorin: Svenja Pelzel
Redaktion: Ranty Islam