1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Kriminalpsychologie

Michael Hartlep3. Juni 2013

Rätselhafte Spuren am Tatort. Immer wenn die Polizei nicht weiter weiß, zieht sie einen Tatortanalytiker zu Rate. Mit psychologischen Kenntnissen versucht er, die Handlungen des Täters zu deuten.

https://p.dw.com/p/18hso
Beamte der Spurensicherung untersuchen in Tübingen einen Tatort, an dem eine Frau während der Fahrt ihren Ehemann erschossen haben soll. Eine 48-jährige Frau hat während der Fahrt ihren Ehemann erschossen, der am Steuer des Autos saß. Der Wagen prallte in Tübingen gegen eine Gartenmauer. Der blutüberströmte 63-Jährige habe noch aus dem Auto klettern können, sei dann aber auf der Straße zusammengebrochen und gestorben, teilte die Polizei mit. Foto: dpa/Jürgen Meyer
Ein Tatort in TübingenBild: picture-alliance/dpa

Ein toter Säugling liegt auf einem kleinen Polster aus Moos. Stichwunden zeigen auf den ersten Blick, woran er gestorben ist. Ein Verbrechen in Oberösterreich, das Thomas Müller nicht vergessen hat. Er ist Fallanalytiker beim Bundeskriminalamt in Österreich. "Die meisten Menschen denken, dass ich mich in den Kopf des Täters versetze und seine nächsten Schritte vorhersage. Aber das ist Hokuspokus aus dem Fernsehen", sagt Müller.

Müller tritt auf den Plan, wenn die Kollegen die Spuren gesichert, Fotos gemacht und Zeugen gesucht haben. Aus diesen Spuren zieht er dann Schlüsse. "Menschen treffen bestimmte Entscheidungen wegen bestimmter Bedürfnisse. Wenn wir also diese Entscheidungen analysieren, erfahren wir etwas über die Persönlichkeit dieser Menschen", erklärt Müller. Wie hat der Täter die Leiche abgelegt? Wen hat er als Opfer genommen? Welche Waffe hat er verwendet? Hat er vor oder nach dem Tod zugestochen? Mit diesen Fragen versucht Müller, das Verhalten des Täters zu entschlüsseln.

Erst Streifenpolizist, dann Kriminalpsychologe

Kurze Haare, Stirnfalten und ein konzentrierter, hellwacher Blick. Thomas Müller wirkt energisch. Nicht wie jemand, der sich von Absatz 1, Paragraph 2 in der Dienstvorschrift sagen lässt, wie er zu arbeiten hat. Nicht wie jemand, der sich mit einfachen Antworten zufrieden gibt. Wie am Anfang seiner Karriere als Streifenpolizist. "Ich hatte drei Jahre hintereinander immer an Weihnachten Dienst und bin jedes Jahr zu der gleichen Familie gerufen worden, weil der Vater seine Kinder unter dem Weihnachtsbaum verprügelt hat." Müller wollte verstehen, warum das passiert und studierte Psychologie. Doch die Antworten blieben aus. Müller fand sie schließlich beim FBI in den USA, wo er eine zweijährige Ausbildung zum Kriminalpsychologen absolvierte.

Kriminalpsychologe Thomas Müller. (Foto: Ecowin)
Kriminalpsychologe Thomas Müller liest die Spuren des TätersBild: Ecowin

Seitdem hat Müller über 1000 Sexualdelikte bearbeitet und gilt als Fachmann auf diesem Gebiet. "Ich kann nicht denken wie ein Täter, ich kann nicht so fühlen, aber ich kann sehr viel lernen", sagt er. Müller hat viele Gespräche geführt mit verurteilten Mördern und Sexualstraftätern in Gefängnissen: Über die Befriedigung, die Art der Kontrolle, den Stress und bestimmte Entscheidungen. Wenn unterschiedliche Täter die gleichen Antworten geben, ist Müller seinem Ziel näher: Dann versteht er ein bisschen mehr, was Spuren an einem ähnlichen Tatort bedeuten könnten. Müller nennt seine Kenntnisse "eine Basis".

Diese Basis hilft, einen Tatort zu interpretieren. Dabei muss Müller eine erste Entscheidung treffen: Spiegelt der Tatort überhaupt wieder, was direkt mit der Tat zusammen hängt? Oder sind es vielleicht doch äußere Umstände? Denn nichts ist so instabil, wie ein Tatort. Wind, Tiere und Temperaturen können einen Tatort innerhalb von Minuten verändern. Erst im zweiten Schritt versucht Müller die Spuren zu deuten: Was hat der Täter getan, um diese speziellenVerbrechen zu begehen? Und was getan, was er nicht hätte tun müssen, um das Verbrechen zu begehen? Besonders aus Letzterem kann Müller Schlüsse auf die Person ziehen.

Ähnliche Fälle finden und interpretieren

Zur Interpretation brauchen die Ermittler allerdings Vergleichsfälle. Dafür stehen Müller und seinen Kollegen Datenbanken zur Verfügung, in denen er wie in Suchmaschinen nach Parallelen suchen kann.

Ein Tatort vor einer Gaststätte in Hannover. (Foto: Peter Steffen dpa/lni)
Wenn Täter versuchen ihre Spuren zu verwischen, passieren dabei meist Fehler, meint MüllerBild: Picture-Alliance/dpa

Anfang der neunziger Jahre begann in Österreich, Tschechien und den USA eine rätselhafte Mordserie an Prostituierten. Alle waren stranguliert worden, mit der zu einem Henkersknoten gebundenen Unterwäsche. "Da kommt man auf den Gedanken: Die Kombination ist so selten, vielleicht ist es die gleiche Person. Und genau so war es", sagt Müller. Anfang 1992 nahm das FBI in den USA den Österreicher Jack Unterweger fest und Müller hatte seinen Teil dazu beigetragen.

Es gibt aber auch Täter, die einen Tatort bewusst verändern, um ein anderes Motiv vorzuspielen. Manche stehlen etwa nach einem Mord die Wertsachen, um einen Raubmord zu inszenieren, oder legen ein Feuer. Müller erkennt diese Fälle sofort: „Die meisten Menschen machen da Fehler." Dann fliegt die Inszenierung auf und Müller hat eine neue Erkenntnis über den Täter gewonnen. "Für die Täter ist das wie ein Bumerang, der dann wieder zurück kommt", sagt Müller.

Trotz Aufklärung ein vager Erfolg

"Das perfekte Verbrechen gibt es nicht. Irgendwann klopft jemand an die Tür und dann ist es besser, dass man unschuldig ist." Auch im Fall des toten Babys auf dem Moosbett klopfte es - dank Thomas Müller. Ihm fiel auf, dass es einen großen Unterschied gab zwischen der Tat selbst und der Art, wie es abgelegt wurde. "Meine Schlussfolgerung war: Es waren zwei unterschiedliche Leute. Eine Person hat es getötet und eine andere hat es abgelegt." Die Strategie der Polizei zielte in genau diese Richtung. Über die Medien versuchte sie, die zweite Person zum Sprechen zu bringen, damit sie den Täter preisgibt. Und genau so kam es.

Einen Erfolg möchte Müller aber selbst diese Ermittlung nicht nennen: "Wir kommen ja eigentlich immer zu spät. Vielleicht liegt mein Erfolg in einer Sache, die ich nie erfahren werde. Weil ich vielleicht geholfen habe, einen Täter zu fassen und zu verurteilen. Aber derjenige, der nicht getötet oder vergewaltigt wurde, weil der Täter im Gefängnis sitzt, wird nie zu mir kommen und sich bedanken."