1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Die Sprache schweigt, die Gedanken nicht

Das Gespräch führte Sonia Phalnikar22. September 2003

Hier indisch, da deutsch: Die Kollision der Kulturen hat Anita Desais Werke geformt. Beim Internationalen Literatur-Festival in Berlin sprach DW-WORLD mit der gefeierten Autorin über ihr Buch "Baumgartners Bombay".

https://p.dw.com/p/45Z0
Indisch-deutsche Literatur-Preisträgerin: Anita DesaiBild: dpa

Anita Desais Leben liest sich wie eines ihrer Roman-Figuren. 1937 wurde sie in Nordindien geboren, als Kind eines bengalischen Vaters und einer deutschen Mutter. Desai gehört zu den ersten indischen Autoren, die auf Englisch schrieben. Ihre Werke spielen im indischen Alltag, mit Charakteren aus der Englisch sprechenden indischen Mittelschicht. Das Motiv der Verbindung zwischen den Kulturen und der Entfremdung zieht sich wie ein roter Faden durch ihre vielen Romane und Kurzgeschichten. Seit sie im Alter von neun Jahren ihre erste Erzählung veröffentlichte, hat die beliebte Autorin mehrere Literaturpreise gewonnen und wurde drei Mal für den prestigeträchtigen Booker-Prize nominiert.

Ihr Roman "Baumgartners Bombay", 1988 erschienen, hebt sich von ihren früheren Werken ab. Er erzählt die Geschichte von Hugo Baumgartner, einem jüdischen Teenager in Berlin, der auf der Flucht vor den Nazis nach Indien geschickt wird. Zuerst sitzt Baumgartner dort im Gefängnis. Nach Kriegsende zieht er nach Bombay in ein heruntergekommenes Apartment - in der indischen Gesellschaft bleibt er ein ewiger Außenseiter.

DW-WORLD: Ist Baumgartners Bombay eine persönliche Familiengeschichte?

Anita Desai: Nicht ganz. Ich wollte über den deutschen Teil meiner Familie und mein deutsches Erbe schreiben, aber ich wusste nicht, wie ich das in eine indische Umgebung einpassen sollte. Über die Briten in Indien kann man ganz leicht schreiben, aber über die Deutschen? Ich habe lange dafür gebraucht, eine Hauptperson zu finden - es gab Menschen wie Baumgartner im Bekanntenkreis meiner Mutter. Es ist eine merkwürdige Sache, aber der Name "Baumgartners Bombay" schien einfach vom Himmel zu fallen. Und als ich den Titel einmal hatte, konnte ich auch eine Story erfinden.

Ihre deutsche Mutter ist unter ganz anderen Vorzeichen als Baumgartner nach Indien gekommen. Wie hat sie sich eingelebt?

Sie traf meinen Vater hier in Berlin und hat ihn hier geheiratet. Also kam sie als Braut nach Indien, sehr bewundert von der Familie meines Vaters. Sie hat sich schnell angepasst, aber ich denke, das geschah mit viel Selbstaufgabe und Weisheit. Sie erzählte mit immer, ihre Mutter habe ihr gesagt: "Zieh Deine Kinder nicht so auf, dass sie denken, sie wären Deutsche. Dann wären sie nur unglücklich, in Indien zu leben." Und meine Mutter hat genau das getan, wir waren immer überrascht, wenn jemand erwähnt hat, dass sie Deutsche war.

Hatten Sie jemals einen inneren Zweispalt zwischen Ihren deutschen und Ihren indischen Wurzeln, als Sie aufwuchsen?

Ich habe bloß gemerkt, dass unsere Familie anders war als die anderen indischen Familien - zufällig irgendwie europäisch. Meine Mutter schien sich ans indische Leben sehr gut anzupassen. Aber sehr oft waren die Ideen, die sie äußerte, offensichtlich westliche. Ich war mir bewusst, dass sie eine andere Sicht auf Indien hatte: Ihre Reaktionen waren analytisch, rational, intellektuell. Meine und die meines Vaters waren sehr viel emotionaler und instinktiver.

Baumgartner hat als Deutscher sechs Jahre in einem Internierungscamp in Indien verbracht, weil die anglo-indischen Behörden keinen Unterschied zwischen Deutschen und Juden machten. Was für eine Art Lager war das?

Das ist ein vergessener Teil des Zweiten Weltkriegs. Es gab solche Lager in Indien, und alle, die die Briten für Ausländer hielten, wurden dort während des Krieges interniert. Bekannte meiner Mutter haben die Kriegsjahre dort verbracht und kamen mit vielen Geschichten zurück, die ich in einem Kapitel mit eingearbeitet habe. Das Internierungslager war kein Horror-Camp oder Konzentrationslager. Die Insassen wurden nicht misshandelt, aber es wurde ihnen im Leben so viel Zeit genommen, dass alles in Verzögerung geriet. Meine Mutter konnte dem entkommen, weil sie indische Bürgerin war, sie hatte ihre deutsche Staatsbürgerschaft abgegeben.

Anita Desai: Baumgartner's Bombay
Baumgartners Bombay (Cover der us-amerikanischen Taschenbuchausgabe)

Baumgartner hat im Buch eine intensive Sehnsucht nach seiner Muttersprache. War das bei Ihrer Mutter genauso?

Meine Mutter konnte wundervoll erzählen, und wir wurden immer mit deutschen Schlafliedern und wundervollen Geschichten von Ostern und Weihnachten in Deutschland zu Bett gebracht. Für uns waren sie wie Märchen. Aber als ich älter wurde, habe ich gemerkt, welch immenses Heimweh meine Mutter empfunden haben muss. Deshalb wollte ich der Sprache in meinem Buch Tribut zollen - angesichts der Tatsache, dass in der Sprache die Kultur eines Landes liegt. Sogar Baumgartner, der Deutschland verlassen und alles verloren hat, hat noch immer seine Sprache und behält sie.

Wann haben Sie erfahren, wie Deutschland wirklich ist? Und wie hat sich das in Ihren Werken niedergeschlagen?

Ich erinnere mich, wie die Niederlage der Deutschen im Radio verkündet wurde. Den Gesichtsausdruck meiner Mutter werde ich nie vergessen – vielleicht war das der Moment, als Deutschland für mich real wurde. Die Geschichte hat sich für mich erst später enthüllt. Als Nachrichten aus Deutschland kamen, war das nichts, über das meine Mutter hätte sprechen wollen. Also habe ich Deutschland und den zweiten Weltkrieg gründlich erforscht, als ich anfing, "Baumgartners Bombay" zu schreiben. Dabei habe ich vieles gelernt, was ich von meiner Mutter nie gesagt bekam. Sie wollte natürlich nur ihre glückliche Kindheit in Erinnerung behalten. Und sie ist nie mehr nach Deutschland zurückgekehrt.

Wie fühlt es sich an, heute in Berlin zu sein, das von den Erinnerungen Ihrer Mutter so weit entfernt ist?

Ich glaube nicht, dass meine Mutter heute die Stadt wiedererkennen würde, die sie in den 1920er-Jahren verlassen hat. Wenn ich durch die Stadt gehe, scheint alles so neu, so real, dass ich mir sicher bin, sie würde nichts wiedererkennen. So gesehen ist es auch für mich eine neue Stadt. Berlin ist eine moderne Stadt, es gehört überhaupt nicht in die Ära meiner Mutter. Das einzige, was mich damit verbindet, ist, dass ich mich freue, die Sprache wieder zu hören, weil ich davon sonst so abgeschnitten bin.