Aufgehobene Dinge
5. September 2010Vor zwei Jahrzehnten wurde mit dem Fall der Berliner Mauer die Teilung der beiden deutschen Staaten beendet. Anders als in vielen osteuropäischen Staaten bemühen sich deutsche Historiker seitdem systematisch darum, die politische Wende und die Hinterlassenschaften des Sozialismus als Bestandteil der Geschichte des nun wiedervereinten Deutschlands zu sichern. Bereits 1993 wurde dafür in dem nahe der polnischen Grenze gelegenen und einst nach sowjetischem Vorbild errichteten Ort Eisenhüttenstadt ein Dokumentationszentrum eingerichtet. "Aufgehobene Dinge" heißt dort eine Ausstellung, die noch bis Mai 2011 den ungewöhnlichen Nachlass einer ostdeutschen Sekretärin zeigt.
7000 Objekte auf 25 Quadratmetern
"Wir waren sprachlos, als wir das fünf mal fünf Meter große Wohnzimmer der Frau betraten", erinnert sich Dr. Andreas Ludwig, der Leiter des Dokumentationszentrums für Alltagskultur der DDR. "Das einzige Zimmer war voller Regale mit Schachteln, Kisten und Koffern. Zwischen allem führte nur ein kleiner Pfad in die Küche." Insgesamt fanden sich mehr als 7000 Objekte. Es war eine komplette Biografie, geschrieben mit Alltagsgegenständen."
Ilse Polzin begann ihre Berufskarriere bei einer Nazi-Wohlfahrtsorganisation, arbeitete nach dem Zweiten Weltkrieg als Bauarbeiterin und später als Sekretärin. "Sie muss ganz systematisch in einer sozialistischen Mangelwirtschaft wie die der DDR nach bestimmten Dingen gesucht haben." 4000 der aufgefundenen Gegenstände sind nun in dem aus öffentlichen Geldern und privaten Stiftungen finanzierten Dokumentationszentrum zu sehen: Hüte, Tücher, Handschuhe, Einkaufsbeutel, hunderte Accessoires wie Kämme, Ketten, Haarspangen, aber auch Servietten, Schreibblöcke, Tisch-Sets, Tischdecken.
Biografie aus Alltagsgegenständen
Ilse Polzin gehörte aber nicht zu jenen Menschen, die sich nicht von einmal angeschafften Dingen zu trennen wissen. Denn: Alle Dinge, die sich in ihrer Wohnung befanden, waren katalogisiert, beschriftet und mit Kommentaren versehen. Auf die Frage nach dem "Warum" kann auch Dr. Ludwig bis heute keine Antwort geben. Wohl aber darauf, was diese Dinge dem Besucher der Ausstellung erzählen können.
"Es erschließt sich eine komplette Arbeitsbiografie einer alleinstehenden Frau in Ost-Berlin. Man erfährt, wie sich Einkommen entwickeln. Man erkennt den Kontext, die Arbeitswelt in DDR-Betrieben. Und man lernt, dass es zwar eine Mangelgesellschaft gab, aber völlig entgegen der öffentlichen Wahrnehmung eine unglaublich große Breite von Produktkultur", erläutert Dr. Ludwig.
Traum vom großbürgerlichen Leben
Es ist, als hätte sich Ilse Polzin aus der Enge eines sozialistischen Landes wie der DDR in ein großbürgerliches Leben geträumt, in ein Haus, in dem all diese Dinge Platz gefunden hätten. Zwar stehen die Ausstellungsmacher immer noch vor einem Rätsel. Doch es ist genau dieses Rätsel, das zu Spekulationen anregt, beim Betrachter detektivischen Spürsinn weckt. Doch wie sehr sich der Betrachter auch vertieft, wie viel er auch sucht und deutet. Zurück bleibt eine Mischung aus Staunen und Ratlosigkeit über diese außergewöhnliche Sammlung einer eigentlich ganz normalen deutschen Bürgerin.
Autor: Mirko Schwanitz
Redaktion: Conny Paul