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Die Rolle der Neuen Medien

Amel Grami 8. Mai 2013

Haben die sozialen Netzwerke die Revolutionen in der arabischen Welt mit ausgelöst? Die tunesische Publizistin Amel Grami ist skeptisch – und warnt sogar vor dem extremistischen Potential der Neuen Medien.

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Amel Grami, tunesische Publizistin und Frauenrechtlerin; Copyright: DW/U. Schaeffer
Amel GramiBild: DW/U. Schaeffer

Die sogenannten "Neuen Medien" verheißen dem Individuum "Empowerment", mehr Selbstbefähigung also. Der Mensch hat nun die Möglichkeit, mit unterschiedlichen Texten, Ideen und Ansätzen, die das weltumspannende Netz bereit hält, in Interaktion zu treten. Er kann nicht nur empfangen, sondern auch weiterverbreiten und kommunizieren. Er kann also das machen, was eine Staatsbürgerin bzw. einen Staatsbürger eigentlich ausmacht.

Deshalb sprechen einige auch von einer "Demokratisierung der Kommunikationsmittel". Sie sprechen davon, dass sich für die Bürgerinnen und Bürger ungeahnte Perspektiven auftun, an der Gestaltung einer neuen Welt teilzuhaben – dank einer von den Neuen Medien ausgelösten politischen Revolution.

Speerspitze des Aufbruchs?

Einige Untersuchungen sind zu dem Ergebnis gekommen, dass die arabische Jugend nicht zur Speerspitze des politischen Aufbruchs hätte werden können, wenn sie nicht über diese neuen, äußerst effektiven Instrumente verfügt hätte. Der libanesische Publizist Nadim Mansouri bringt es auf den Punkt: "Facebook hat in der arabischen Welt einen Kultstatus erlangt und sich in einem atemberaubenden Tempo verbreitet. Dank seiner Möglichkeiten konnten die Nutzer ihre Ziele erreichen und die Massen zum Sturz ihrer unterdrückerischen Regime mobilisieren."

Zur Rolle der Neuen Medien bei der Schaffung eines demokratischen, revolutionären Bewusstseins gibt es allerdings unterschiedliche Ansichten. Auf der anderen Seite der "Facebook-Enthusiasten" stehen diejenigen, welche die Bedeutung der im Laufe ganzer Generationen von Aktivisten zusammengetragenen Erfahrungen im politischen Kampf hervorheben. Und diese wollen sie nicht unter den Teppich gekehrt sehen. Zwischen diesen beiden Polen liegt ein weites Spektrum an Meinungen, das uns – nach gut zwei Jahren "Arabellion" – zu der drängenden Frage Anlass gibt: Welche Rolle haben die Neuen Medien in den arabischen Revolutionen wirklich gespielt, und in welchem Maße ist es ihnen gelungen, ein demokratisches Bewusstsein zu verankern?

Ein neues Selbstbewusstsein

Eines steht fest: Wir haben während der letzten Jahre eine bemerkenswerte Ausbreitung von politischen Blogs, Websites, Internetforen, Satellitenprogrammen und Facebook-Seiten erlebt. Das Hochladen von Youtube-Videos und das Austauschen von Kurznachrichten, Bildern und Infos über Twitter hat schon vor Ausbruch der Revolution immer mehr Anhänger gefunden.

Zweifellos hat dies dazu beigetragen, dass viele in den modernen Medien den Hauptakteur bei der Schaffung eines politischen Bewusstseins sehen. Ein Bewusstsein, das nach Freiheit, Würde und Gerechtigkeit dürstet und der Ausbeutung und Isolation ein Ende setzen möchte.

Junge Menschen konnten von den genannten digitalen Medien profitieren und Solidaritäts- und Unterstützungsnetzwerke bilden. Sie nutzten sie, um kritische Artikel zu veröffentlichen, die neuesten Ereignisse zu kommentieren und ihr Vorgehen auf den Straßen zu koordinieren. Dadurch konnten sie ihr Selbstvertrauen wiedergewinnen und sich vor allem ihrer Fähigkeit vergewissern, die Realität beeinflussen, ja sogar verändern zu können.

Facebook und Co. überschätzt?

Doch es gibt nicht wenige, die die Behauptung, der Erfolg der Revolution sei in erster Linie ein Verdienst der Kommunikationsmedien, für übertrieben halten. Ein politisches Bewusstsein entstehe nicht von heute auf morgen und lasse die Leistungen ganzer Generationen von Aktivisten außer Acht, sagen sie. Auch würdige die Beschränkung auf die Neuen Medien nicht ausreichend die Rolle anderer Formen zivilgesellschaftlichen Engagements.

Tatsache ist, dass sich die Ursachen für die Revolution bei genauerer Betrachtung als sehr viel heterogener und komplexer erweisen. Wenn wir uns die Herausbildung der Oppositionsbewegung in Tunesien anschauen, können wir klar erkennen, wie das politische Bewusstsein in der Bevölkerung unter dem Eindruck vielfältiger Aktionsformen von Bürgerrechtsaktivisten zugenommen hat. Auch wenn das frühere Regime versucht hat, diese Ansätze zu unterbinden, so konnten sie sich doch im Laufe vieler Jahre zu Vorbildern entwickeln. Und sie machten all jenen Hoffnung, die sich nach einem besseren Morgen sehnten. Ein Beispiel: Die Aufstände vor fünf Jahren im Bergwerksrevier im Süden Tunesiens, bei denen mehrere Arbeiter getötet wurden, hinterließen im ganzen Land einen nachhaltigen Eindruck - trotz der unerbittlichen Niederschlagung der Proteste durch das Regime und der Isolierung der Region vom Rest des Landes.

Keine Führungsrolle

Moderne Kommunikationsmittel waren in dem von Armut gezeichneten Landstrich kaum verbreitet. Trotzdem sprachen sich die Ereignisse herum; und der Wille, sich dem unterdrückerischen Regime entgegenzustellen, war so stark, dass er unzählige Männer und Frauen auf die Straßen trieb. Sie durchbrachen die Mauern der Angst und zahlten einen hohen Preis für ihren Widerstand.

Deshalb sollten wir die Rolle der Neuen Medien einer Neubewertung unterziehen. Wir sollten ihnen nicht die Führungsrolle, sondern vielmehr einen der nachfolgenden Ränge zuzuweisen. Sie sind nur ein Mittel von mehreren, wenn auch ein mächtiges: Sie haben das Ben-Ali-Regime vor der ganzen Welt bloßgestellt.

Handlanger des Systems

Zum Schluss sei noch angemerkt, dass die Neuen Medien nicht immer im Zeichen von Demokratie und Freiheit stehen. Die "saudisch-wahabitische" Bewegung (Anmerkung der Redaktion: eine extrem konservative und dogmatische Ausrichtung des sunnitischen Islams, ) beeinflusste Satellitenkanäle und Websites; Facebook-Seiten und Videoclips versuchen, visuell ansprechend religiöse Dogmen zu vermitteln und stellen einen frontalen Angriff dar. Sie stehen für eine Zementierung der Unwissenheit und einen Missbrauch der Religion.

Statt sich in den Dienst einer Kultur des Hinterfragens, der Kritik und des Rechtsstaats zu stellen, sind viele moderne Kommunikationsmedien zu Handlangern eines regressiven gesellschaftlichen Wandels geworden. Und statt zur Etablierung einer Kultur der Menschenrechtserziehung, zum Aufbau des gesellschaftlichen Friedens sowie zu einem fundamentalen Wandel im gesellschaftlichen System und in den ökonomischen Strukturen beizutragen, sind die Neuen Medien oftmals zu Komplizen geworden: Sie haben geholfen, das Bewusstsein zu beeinflussen und eine marginalisierte Jugend für Aktionen des Dschihads zu manipulieren.

Übersetzt aus dem Arabischen von Rafael Sanchez

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Amel Grami ist Professorin für Gleichberechtigung und interkulturelle Studien an der tunesischen Universität in Manouba. Sie hat zahlreiche Bücher über Frauenrechte und Reformen in der arabischen Welt geschrieben.