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Mehr als nur Radio

Nina Gruntkowski24. Februar 2009

Alte Menschen sind der Markt der Zukunft – in Portugal leben viele in den Bergen im Norden Portugals. Und die meisten hören täglich die Mitmach-Radiosendung von Tio João, die für viele zum Familienersatz geworden ist.

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Tio João sitzt im Studio von Radio Bragança (Foto: Afra Gallati)
Tio João ist die Stimme der Radiosendung - und vieles mehrBild: DW / Nina Gruntkowski

Jeden Morgen um sechs Uhr geht Tio João mit seinem charakteristischen Guten-Morgen-Ruf auf Sendung. "Wer ist bereit für ein weiteres Kapitel der Radioseifenoper unseres Alltags?", fragt er mit seiner charakteristisch heiseren Stimme und fordert dann seine Hörer auf, sich per Telefon an der Sendung zu beteiligen. Die restlichen zwei Stunden steht das Telefon bei Radio Bragança nicht mehr still.

Todesfälle und Streicheleinheiten

Zwei Frauen sitzen vor Mikrofonen im Radio-Studio (Foto: Afra Gallati)
Tia Leninha und ihre Nachbarin Tia Laurinda sitzen manchmal auch im StudioBild: DW / Nina Gruntkowski

Blitzschnell erkennt er an der Stimme oder der Art der Begrüßung, wer am anderen Ende der Leitung ist, denn viele "Tanten" und "Onkel", wie die Hörer genannt werden, rufen regelmäßig an. Nach einem herzlichen "Olá" und vielen Küsschen erkundigt sich Tio João nach dem Wohlergehen dieser oder jener "Tante", dem gebrochenen Bein des Nachbarn oder dem Stand der Weinernte. Es wird geplaudert, Neuigkeiten wie Todesfälle und Beerdigungstermine werden an die Hörergemeinschaft weitergegeben, aber es wird auch gesungen und musiziert.

Im ersten Moment erscheint die Figur des Radioonkels wie eine Karikatur, doch wendet er sich seinen Hörern mit ernsthaftem Mitgefühl zu. "Der größte Teil meiner Hörer sind 'große' Menschen, wie ich die über 65-Jährigen nenne. Die brauchen meine freundschaftlichen Worte am meisten, denn ihre Kinder leben längst woanders, oft sogar im Ausland. Hier ist kaum noch jemand, der den Alten die nötigen Streicheleinheiten geben kann. Deswegen bin ich für viele so etwas wie ein Sohn oder Enkel. Sie wachen täglich mit mir auf und ich gehöre inzwischen zu ihrem Leben", erzählt Tio João.

Alte Hörer sichern das Überleben des Senders

Viele Menschen sitzen an langen Tischen und essen gemeinsam (Foto: Afra Gallati)
Sie hören nicht nur gemeinsam Radio, sondern erleben auch vieles zusammenBild: DW / Nina Gruntkowski

Mit Tio João kommt seit bald 20 Jahren täglich Leben in die Häuser von über 2400 Dörfern in Trás-os-Montes. Die Einschaltquoten sind beachtlich: Morgens zwischen sechs und acht Uhr spielen acht von zehn eingeschalteten Radios in Nordportugal Radio Bragança. Die Sendung "Bom dia Tio João" ist damit das Zugpferd des kommerziellen Senders, den viele nur als "das Radio von Tio João" kennen.

"Tio João ist ein rein durch Werbung finanziertes Programm. Es gibt viel mehr Anfragen als Werbeplätze", erklärt der Radiodirektor Lionel Guedes. Da in der Region hauptsächlich alte Menschen lebten, wollten viele Unternehmen ihre Produkte und Dienstleistungen für das "Dritte Lebensalter" anbieten. "Wir haben schon Werbeverträge bis ins Jahr 2010 abgeschlossen", sagt Guedes.

Blick auf eine Landschaft mit einem kleinen Dorf (Foto: Afra Gallati)
In Trás-os-Montes ist Tio João der "Enkel" und "Onkel" von vielenBild: DW / Nina Gruntkowski

Doch Tio João ist längst viel mehr als die Stimme eine Radiosendung. Damit sich immer mehr Hörer auch persönlich kennen lernen und die Gemeinschaft stärker zusammenwächst, organisieren Tio João und seine Frau Helena gemeinsame Essen, Reisen und einmal im Jahr ein großes Picknick, zu dem Tausende Hörer zusammenkommen.

"Wir sind eine echte Familie"

Dort tauschen zum Beispiel der Hörer Tio Ginja und die anderen Männer fröhlich Neuigkeiten aus. Tia Maria Luisa hält Ausschau nach bekannten Stimmen und Gesichtern, um mit möglichst vielen herzliche "Beijinhos" auszutauschen: "Die Hörer kennen sich aus dem Radio. Wir respektieren einander und helfen uns gegenseitig. Es ist einfach das Beste, das uns passieren konnte. Wir sind wie eine echte Familie", erzählt Tia Maria Luisa.

Menschen stehen gemeinsam um einen Grill herum (Foto: Afra Gallati)
Das Gemeinschaftsgefühl ist starkBild: DW / Nina Gruntkowski

Die Hörer genießen das Gemeinschaftsgefühl, das vielen einen neuen Lebenssinn gibt. Doch teilt die Hörergemeinschaft nicht nur die guten Momente miteinander, sondern unterstützt sich auch in schlechten Zeiten: Über 100 Rollstühle wurden so schon finanziert und so mancher Familie wurde zum Beispiel nach einem Brand unter die Arme gegriffen. Wo früher die traditionelle Großfamilie eingesprungen ist, stehen heute vielen Tio João und die Radiofamilie zur Seite.