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Die poetische Stimme Palästinas

Martina Sabra, Qantara.de2. September 2005

Mahmoud Darwisch hat über Jahrzehnte den Kampf der Palästinenser begleitet - und auch selbst mitgekämpft. Die Werke des einstigen Kulturchefs der PLO sind nun auch für das deutschsprachige Publikum zu haben.

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Mahmoud Darwisch in seinem Büro in RamallahBild: AP

"Setz ab hier und jetzt von den Schultern Deine Bahre
Gibt Deinem Leben Gelegenheit, die Geschichte
Zu korrigieren."

Der palästinensische Lyriker Mahmoud Darwisch, der in jungen Jahren als "Widerstandsdichter" galt und der heute zu den bedeutendsten arabischen Dichtern zählt, hat künstlerisch, menschlich, politisch und körperlich alle denkbaren Höhen und Tiefen erlebt.

Mit 63 Jahren, nach einer lebensbedrohlichen Herzkrankheit und angesichts der Tatsache, dass sein Volk nach jahrzehntelangem Kampf immer noch keinen eigenen Staat hat, hat Darwisch mit seinem Gedichtzyklus "Entschuldige Dich nicht für Getanes" eine persönliche und politische Standortbestimmung unternommen.

Dass eine kleine Auswahl aus diesem Gedichtband diesmal schon wenige Monate nach Erscheinen des arabischen Originals in deutscher Übertragung vorliegt, ist dem syrischstämmigen Übersetzer Adel Karasholi aus Leipzig zu verdanken. Karasholi, selbst Lyriker und Chamisso-Preisträger, hat unter dem Titel "Wo Du warst und wo Du bist" auch Gedichte aus drei früheren Sammlungen seines Freundes Darwisch teils neu, teils zum ersten Mal, ins Deutsche übertragen.

Damit erhält das deutschsprachige Publikum nicht nur Zugang zu bislang unbekannten Werken von Darwisch, sondern auch die Möglichkeit, das jüngere Schaffen des palästinensischen Dichters im Zusammenhang nachzuvollziehen.

Enttäuschung über Oslo-Abkommen

Bildgalerie Arafat Handschlag zum Oslo-Abkommen
Handschlag zwischen Rabin und Arafat: das Osloer AbkommenBild: AP

In den lyrisch anspruchsvollen, bilderstarken Versen von "Warum hast Du das Pferd alleingelassen?" hat Darwisch sein politisches Engagement der frühen Jahre scheinbar hinter sich gelassen. Doch der sich andeutende poetische Rückzug auf das eigene Ich, das sprachlich facettenreiche Spiel mit dem Selbst und dem Anderen, spiegelt auch Darwischs tiefe Enttäuschung über das Abkommen zwischen der PLO und Israel in Oslo von 1993 wieder.

Die Konzessionen von Yassir Arafat hatten den Dichter seinerzeit veranlasst, seinen langjährigen Posten als Kulturchef der PLO abzugeben und den palästinensischen Nationalkongress zu verlassen. Einige Verse scheinen darauf anzuspielen:

Ich sehe alte Propheten
Wie sie barfüßig gen Jerusalem hinaufsteigen
Und frage: Gibt es keinen neuen Propheten
Für unsere neue Zeit?

Vier Jahre später ist Darwisch heiterer, entspannter. Er lebt jetzt - ironischerweise dank der Oslo-Vereinbarungen - in Ramallah im Westjordanland, und ist damit nach über 20 Jahren erzwungenem Exil der verlorenen Heimat zumindest ein Stück näher gekommen.

Mit "Belagerungszustand" meldet sich Darwisch Anfang 2002 als politischer Dichter zurück. Die Texte entstanden während der monatelangen Belagerung Ramallahs und des Hauptquartiers von Präsident Yassir Arafat im Frühjahr 2001, in deren Verlauf Darwischs Arbeitsplatz, das Sakakini-Kulturzentrum in Ramallah, beschossen und sein Büro von israelischen Soldaten verwüstet wurde.

"Belagerungszustand" offenbart Darwischs Verbitterung über Israels Unwillen, wirklich Frieden mit den Palästinensern zu schließen, aber auch über westliche Regierungen, die der gewaltsamen Vertreibung der Palästinenser tatenlos zuschauen, und gleichzeitig behaupten, die Araber seien von sich aus zu Demokratie und Fortschritt nicht fähig.

Lesen Sie weiter: Der Arabist und Übersetzer Stefan Milich über Mahmoud Darwisch

Wer das Gelesene zeitgeschichtlich und literaturwissenschaftlich einordnen möchte, wird bei dem jungen Arabisten und Übersetzer Stefan Milich fündig. Unter dem Titel "Fremd meinem Namen und fremd meiner Zeit" bietet Milich die nicht durchweg originelle, aber bislang umfassendste Auseinandersetzung mit Leben und Werk Mahmoud Darwischs.

Ins Zentrum seiner materialreichen Analyse stellt Milich das Thema Identität, und zwar in zweifacher Hinsicht: als national-palästinensische und als persönlich-künstlerische Identität.

Milich beschränkt sich nicht auf reine Textanalysen oder auf einen Abgleich von Darwischs lyrischem Werk mit der Ereignisgeschichte, sondern er steckt den Rahmen weiter.

Der verbreiteten Annahme, die Herausbildung der palästinensischen Identität sei in erster Linie eine reine Reaktion auf die Gründung des jüdischen Staates und die Vertreibung der Palästinenser 1948 gewesen, setzt Milich die Bewegung des "neuen Palästinensertums" der 1930er-Jahre entgegen, als die Bewohner Britisch-Palästinas sich gegen britische und zionistische Besatzer wehrten. Die Vertreibungswellen von 1948 und 1967 und das Exil verstärkten das Gefühl der palästinensischen Identität, ebenso wie das Gefühl der Bedrohung.

Dichter, allen voran Mahmoud Darwisch, spielten und spielen eine entscheidende Rolle für die Bewahrung und Weiterentwicklung dieser Identität – bis hin zur totalen Identifikation der Person des Dichters mit der Idee von "Palästina".

Wertvolle Einführung

Als Widerstandsdichter hatte Darwisch in den 1960er-Jahren begonnen, und in gewissem Sinne sei er das noch immer, schreibt Stefan Milich: Allerdings sehe Darwisch heute in der Liebe und der Schönheit mehr subversives Potential als in politischen Programmen.

Milichs Studie ist für jene, die Darwisch bislang nicht oder nur kursorisch kannten, eine wertvolle Einführung. Wer sich mit Darwisch bereits befasst hat, vermisst indes manche Fragen. Zum Beispiel die nach Darwischs Verhältnis zu Yassir Arafat und anderen politischen Machthabern in der arabischen Welt.

Oder warum Darwisch nicht häufiger und vernehmlicher zum Nahostkonflikt und zu innerpalästinensischen Problemen Stellung nimmt. Undiskutiert bleibt auch, warum Darwisch sich kaum jemals konkret zu Menschenrechtsverletzungen in der arabischen Welt geäußert hat.