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Die Option einer Großen Koalition ist nicht unrealistisch

28. Juli 2005

Parteienforscher Klaus Detterbeck gibt im wöchentlichen Wahlkampf-Check Antworten auf Fragen zur Wahl 05. Diesmal beschäftigt er sich mit den Folgen des Köhler-Urteils und der Wahrscheinlichkeit einer großen Koalition.

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War die Entscheidung des Bundespräsidenten, den Bundestag aufzulösen, gut für Deutschland?

Klaus Detterbeck: Die Entscheidung des Bundespräsidenten war politisch angemessen, bleibt aber verfassungsrechtlich fraglich. Sie war politisch angemessen, weil sie sich dem deutlichen Willen der politischen Akteure wie auch der Mehrheit des Volkes nicht in den Weg gestellt hat. Dies entspricht der politischen Zurückhaltung, die dem Amt des Bundespräsidenten in einem parla­mentarischen Regierungssystem zukommt.

Dennoch bleibt die Entscheidung verfassungs­rechtlich fraglich. Sowohl Köhler als auch Schröder haben deutlich zu verstehen gegeben, dass die Vertrauensfrage gestellt wurde, um Neuwahlen herbeizuführen. Der Nachweis, dass eine stabile Mehrheit für den Kanzler im Bundestag nicht mehr gegeben sei, blieb hingegen sehr diffus. Er begründete sich nicht auf tatsächlich verlorene Abstimmungen, sondern auf Kritik an den Reformplänen innerhalb der SPD. Dennoch wird sich das Verfassungsgericht, bleibt es bei der Linie seiner Entscheidung von 1983, wovon auszugehen ist, in dieser Frage nicht gegen die Einschätzung von Kanzler und Präsident stellen.

Eines ist besonders deutlich geworden: Für den politischen Willen zu Neuwahlen muss eine Form gefunden werden, die den Vorgaben des Grundgesetzes leidlich entspricht. Als Lehre aus diesem Vorgang sollte sich das neue Parlament ernsthaft mit der Möglichkeit einer Selbstauflösung des Bundestages, geknüpft an die hohe Hürde einer Zwei-Drittel-Mehrheit, beschäftigen.

Horst Köhler hat mit düsteren Bildern den Zustand Deutschlands untermalt: die Arbeitslosigkeit ist hoch, das Wirtschaftswachstum schwach, die Gesellschaft überaltert. Ist es wirklich so schlimm um Deutschland bestellt?

Der Bundespräsident hat mit der Beschreibung einer tiefen Krise, die man aus seinen früheren Reden kennt, begründet, warum Deutschland eine Regierung mit einem starken Mandat braucht. Dies hat sicherlich zunächst wenig zu tun mit der Frage, die ihm eigentlich gestellt war, nämlich ob die Regierung noch das Vertrauen einer parlamentarischen Mehrheit hat. Das Krisenszenario verweist jedoch auf den eigentlichen Hintergrund der absichtlich verlorenen Vertrauensfrage: die differierenden Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat. Angesichts der klaren Mehrheit der Union in den Ländern schien es der Bundesregierung offensichtlich unmöglich, ihre politischen Vorstellungen für den Rest der Legislaturperiode umzusetzen.

Die Flucht in die Neuwahlen ist der riskante Versuch der SPD-Führung, durch einen Sieg bei der Bundestagswahl eine neue Legitimation für ihre Reformpolitik zu erhalten, um diese dann trotz Unions-Mehrheit im Bundesrat umzusetzen. Dies gilt für eine Steuerreform ebenso wie für eine neue Gesundheitspolitik oder einen neuen Anlauf in der Föderalismus-Debatte, insbesondere im Feld der Bildungspolitik.

Die Spitzen der beiden großen Volksparteien sind sich in der Diagnose der Krise, symbolisiert durch die fünf Millionen Arbeitslose, relativ einig. Bei der Therapie gibt es ungefähre Einigkeit über die Ziele – mehr internationale Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft, mehr Eigenverantwortung der Bürger in der sozialen Sicherung -, aber Differenzen in den Wegen, die dorthin führen sollen. Die Regierung Schröder wollte durch ihre Flucht in die vorgezogenen Neuwahlen eine Richtungsentscheidung erzwingen, die verhindert, dass der parteipolitische Streit zu einem Stillstand in den Reformen bis Ende 2006 führt. In diesem Sinne hat Horst Köhler mit seinem Krisenszenario nicht nur die Perspektive der großen Mehrzahl der führenden politischen Akteure wiedergegeben, die Deutschland tatsächlich in einer bedrohlichen Lage sehen. Er hat auch einen Einblick in die eigentlichen Motive der Neuwahlpläne erlaubt.

Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit einer großen Koalition?

Große Koalitionen auf Bundesebene haben in Deutschland einen schlechten Ruf. Ihnen wird unterstellt, dass sie Reformen eher verhindern, da sie Kompromisse zwischen den beiden Volksparteien auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner erfordern würden. Zudem gelten Große Koalitionen als undemokratisch, da sie die Einflussmöglichkeiten der Opposition drastisch einschränken. Aus diesem Grund wird auch bei der Wahl im September nur die arithmetische Notwendigkeit die Bildung einer Großen Koalition, voraussichtlich mit einer Kanzlerin Merkel, möglich machen.

Derzeit erscheint diese Option als nicht unrealistisch. Nach den Wahlumfragen liegen sowohl der bürgerliche Block als auch die drei Parteien links der Mitte – die SPD, die Grünen und die neue Linkspartei – bei etwa 50 Prozent. Während die Union und die FDP eine Koalition bilden werden, wenn dies rechnerisch möglich ist, halte ich ein linkes Dreierbündnis für ausgeschlossen. Man stelle sich etwa eine gemeinsame Außenpolitik von SPD und PDS vor. Somit wird die Große Koalition nach derzeitiger Lage dann kommen, wenn es für ein Bündnis aus Union und FDP nicht reicht. Dieses Zahlenspiel wird uns in den nächsten Wochen verfolgen.

Wie schlimm wäre eine Große Koalition derzeit?

Durch die differierenden Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat haben wir bereits in den letzten Jahren eine "informelle Große Koalition" erlebt. Größere Reformen sind nur in Aushandlungen zwischen SPD und Union vorstellbar. Angesichts der Probleme des Landes und der relativen Einigkeit der beiden Lager über die Ziele von Reformen (wenn auch nicht immer über die Wege dorthin) wäre entgegen dem obigen Vorwurf der Reformfeindlichkeit von Großen Koalitionen durchaus damit zu rechnen, dass Durchbrüche erzielt werden könnten. Problematisch wäre hingegen der Ausschluss der kleineren Parteien aus diesen Verhandlungen.

Mit der FDP, den Grünen und der Linkspartei werden wir drei weitere Parteien im Bundestag haben, die zusammen etwa 30 Prozent der Wählerschaft hinter sich haben. Diese Parteien würden als Opposition im Bundestag gegenüber einer Großen Koalition machtlos sein, zumal sie auch in den Ländern gegen die Übermacht von Union und SPD nicht ankommen würden. Dies wäre das große Risiko einer "Elefantenhochzeit": Größere Reformen, die ohne Zweifel auch Einschnitte für die Be­völkerung bedeuten würden, würden alleine den beiden Volksparteien zuzurechnen sein.

Klaus Detterbeck Bundestagswahl 05 Experte Porträtfoto

Der Politologe und Parteienforscher Klaus Detterbeck (Jahrgang 1966) lehrt und arbeitet am Institut für Politikwissenschaft der Universität Magdeburg.