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Die nationale Gretchenfrage

Ralf Lehnert2. November 2002

Russland will den Religionsunterricht an Schulen einführen. Jenseits der russischen Grenzen ist der Streit um die richtige Form des Religionsunterrichts ein Dauerbrenner.

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Die Kirche soll mehr Gewicht erhalten: in RusslandBild: AP

Die Zeiten ändern sich. Früher musste Religion in Russland heimlich praktiziert werden. Verfolgungswellen und öffentliche Gängelungen von Gläubigen waren an der Tagesordnung. Kirche und Religion wurden im sowjetischen Kommunismus bestenfalls geduldet. "Atheismus" lautete die staatlich verordnete Weltanschauung, auch im Bildungswesen. Dafür gab es sogar ein Unterrichtsfach: "Wissenschaftlicher Atheismus" hieß es und wurde an den Hochschulen unterrichtet.

Nun die Kehrtwende: Die russische Regierung will den Religionsunterricht an Schulen einführen. Damit solle die "spirituelle Basis der Gesellschaft gefördert werden" berichteten russische Zeitungen unter Berufung auf das Erziehungsministerium. Kritiker bezeichneten die Pläne dagegen als Bruch der in der Verfassung garantieren Trennung von Kirche und Staat.

Miteinander kontra Nebeneinander

Kaum irgendwo sind sich die Europäer so uneins, wie in der "nationalen Gretchenfrage." Sie wird in jedem Land anders beantwortet. Strikt getrennt sind Kirche und Staat beispielsweise in Frankreich. So strikt, dass an französischen Schulen gar kein Religionsunterricht erteilt wird. Andere Länder sind der Ansicht, dass Religion zwar in die Schule gehört – aber bitte wertneutral. Beim multi-religiösen Religionsunterricht, der in England oder Schweden praktiziert wird, werden die Schüler darum nicht getrennt nach Glaubenszugehörigkeit unterrichtet. Der Anspruch ist vielmehr, dass alle mit- und voneinander die verschiedenen Religionen kennen lernen sollen.

Christa Dommel, Religionswissenschaftlerin an der Universität Bremen hat den Unterricht in England miterlebt und ist begeistert. "Vom englischen Modell kann man viel lernen, auch in Deutschland", so ihr Urteil im Gespräch mit DW-WORLD. Viel besser als etwa das deutsche Modell könne der multi-religiöse Unterricht zur Integration unterschiedlicher Kulturen und Religionen in die Gesellschaft beitragen.

Im Italien nur Wahlfach

Peter Schreiner vom evangelischen Comenius Institut ist da skeptisch – vielleicht von Berufs wegen. Die Informationsvermittlung sei zwar in Ordnung. Schreiner bezweifelt jedoch gegenüber DW-WORLD, dass Religionsgemeinschaften authentisch dargestellt werden. Er befürchtet, dass nur "Religion Light" vermittelt werde und ihre Relevanz für das Leben der Menschen auf der Strecke bleibe. Um Schülern eine religiöse Orientierung und Identitätsbildung zu ermöglichen, reiche es nicht, sie nur zu informieren.

In Deutschland wird Religion prinzipiell nach Konfession unterrichtet; ebenso in Österreich, Griechenland und Finnland. Auch Italien gehört zu den Ländern, in denen die Glaubensgemeinschaften den Unterricht mitgestalten – mit einem Unterschied: die Bambini haben zwar katholischen Religionsunterricht, aber nur als Wahlfach. In der BRD ist das bei Schülern als "Reli"-Unterricht bekannte Fach sogar im Grundgesetz verankert. In Artikel 7 heißt es er werde "in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt."

Die Angst der Kirchen

Christa Dommel sieht vor allem einen Grund dafür, dass die Deutschen am konfessionellen Unterricht festhalten. Die Kirchen seien "voller Angst, dass ihnen die Leute weglaufen, wenn sie den konfessionellen Unterricht aufgeben." Kirchenvertreter Schreiner verneint das: "Kein Unterricht darf versuchen, die Schüler zu manipulieren. Es geht darum sie zur Kritikfähigkeit zu erziehen", versichert er im Gespräch mit DW-WORLD. Seine Kirche sehe das Angebot eines Religionsunterrichts als Dienst an der Gesellschaft und nicht als Versuch Mitglieder zu werben. Die religiöse Bildung solle helfen, Kinder nicht als religiöse Analphabeten heranwachsen zu lassen.

Allerdings gibt es im föderalen Deutschland einige Ausnahmen vom konfessionell organisierten Modell. In Bremen etwa wird schon heute ein multi-religiöser "Biblischer Geschichtsunterricht" erteilt. Der wird zwar bisher von der evangelischen Kirche organisiert, ist aber für alle offen, erklärt Peter Schreiner. Und er gesteht zu, dass es wohl konsequent wäre, auch anderen Lehrern zu ermöglichen ihn zu halten. Nur den religiösen Hintergrund, den sollen sie bitte schon haben.