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Die Medien und der Fall Marwa

7. November 2009

Die Berichterstattung deutscher und ägyptischer Medien im Fall Marwa El-Sherbini zeugt mitunter von gegenseitiger Fehlwahrnehmung, Ignoranz und mangelndem Verständnis in beiden Ländern. Eine Bestandsaufnahme.

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Demo (Foto: AP)
Bleibende Erinnerung und Schrei nach Gerechtigkeit: Demonstration zum Prozessauftakt in AlexandriaBild: AP

Der Fall Marwa El-Sherbini steht exemplarisch für eine massenmedial verfehlte Kommunikation der Kulturen. Die Medien beider Länder waren nicht in der Lage, die Gratwanderung ohne gravierende Ausrutscher zu meistern und scheiterten ein weiteres Mal an der Aufgabe, Brücken zur Lösung des Konflikts zu bauen.

Dabei war gerade im Fall Marwa El-Sherbini interkulturelle Sensibilität in höchstem Maße gefragt, die den Medienmachern jedoch anscheinend fehlte. Dieser Fall steht außerdem exemplarisch für einen dringenden Reformbedarf der Strukturen der Mediensysteme weltweit.

So lässt sich beispielsweise ein negativer Tenor zum Thema Islam bzw. Muslime in westlichen Medieninhalten entdecken. Zahlreiche Beiträge belegen dies wissenschaftlich. Denn die Grundstruktur der Berichterstattung zum Thema Islam ist in den deutschen Medien meist verzerrt oder wird oft im Zusammenhang mit Gewalt gebracht.

Normalität und Alltag des Islams spielen nur eine sehr untergeordnete Rolle. Diese Fehlwahrnehmung führt zu einem medial konstruierten Feindbild des Islams in der Öffentlichkeit.

Die Verantwortung der Medien

Vermummter (Foto: dpa)
Grenzenloser Hass: Der Angeklagte Alexander W. hatte die 31jährige Marwa al-Sherbini am 1. Juli während einer Gerichtsverhandlung im Landgericht mit 16 Messerstichen getötetBild: AP

Betrachten wir die strukturellen Merkmale und Rahmenbedingungen der deutschen Medien, so ist die Berichterstattung zu diesem Fall von Politik-, Konflikt- und Krisenzentrierung sowie Personifizierung geprägt.

Ziffer 10 des deutschen Pressekodex besagt, dass Religionen, Weltanschauungen und moralische Anschauungen respektiert werden müssen: "Die Presse verzichtet darauf, religiöse, weltanschauliche oder sittliche Überzeugungen zu schmähen."

Doch statt Respekt zu bezeugen und sich um eine ausreichende Differenzierung zu bemühen, gehören Merkmale wie Terrorismus, Gewalt und Unterdrückung kumulativ zu einer Standard-Berichterstattung über den Islam in vielen Medien.

So verwundert es nicht, dass eine im Jahre 2006 durchgeführte Allensbacher Umfrage unter Deutschen ergab, dass 91 Prozent der Befragten den Islam mit einer Benachteiligung der Frau assoziieren und 83 Prozent den Islam für eine vom Fanatismus geprägte Religion halten.

Da die Medien eine Hauptquelle für diese Fehlwahrnehmung darstellen, können sie sich einer indirekten Mitverantwortung im Mordfall Marwa El-Sherbini nicht entziehen. Sehr wahrscheinlich verfügt der Täter Alexander W. über keinen direkten Kontakt zu Muslimen und sein Islam-Bild ist vor allem medial konstruiert - in Kombination mit seiner rechtsextremen Prägung.

Die sehr negative und respektlose Einstellung des Täters gegenüber dem Islam spiegelt sich in seinem Verhalten gegenüber seinem Opfer wider: In der unmittelbaren Konfrontation beschimpfte er zunächst die junge Muslimin, wurde später handgreiflich und tötete sie zuletzt in einem Dresdner Gerichtssaal.

Genauso wie sich die deutsche Öffentlichkeit zu Recht über den medialen Begriff "islamfeindliches Deutschland" empört, da man aufgrund einzelner islamfeindlicher Stimmen nicht pauschal von einer "islamfeindlichen" Gesellschaft sprechen kann, so empört sich die muslimische Öffentlichkeit schon seit Jahren über bestimmte Medienphrasen wie "islamistischer Terrorismus".

Derartige Etikettierungen wurden nicht zuletzt durch George W. Bushs dualistische Rhetorik und seinen vermeintlichen "Krieg gegen den Terror" vorangetrieben und sickerten zunehmend von der politischen Sphäre in die mediale.

Konfrontation statt rationale Debatten

Trauer (Foto: AP)
Viele Muslime sehen den Mord an al-Sherbini in einem deutschen Gerichtssaal als gravierenden Verstoß gegen die Menschenrechte in einer westlichen Demokratie, die stets auf die Achtung der Menschenrechte bedacht ist.Bild: AP

Es stellt sich die Frage, warum die Medien daran gescheitert sind, eine rationale Debatte über diesen traurigen Vorfall durchzuführen. Die Deutung des Ereignisses war in deutschen und ägyptischen Medien von deutlichen Defiziten geprägt. Gemäß medienethischen Grundsätzen sollten Medien dabei helfen, Konflikte abzubauen und nicht zu schüren.

Doch genau das Gegenteil bewirkten einerseits die ägyptischen Medien durch Übertreibung und andererseits die deutschen Medien durch Untertreibung des Falls. In der polarisierten Medienrealität fehlte es an Rationalität und interkulturellem Verständnis beider Seiten.

Die mangelnde interkulturelle Kompetenz zeugt in einigen Fällen gar von einer Verantwortungs- und Respektlosigkeit gegenüber dem kulturell Anderen. Es sind vor allem die Medien selber, die das dualistische Paradigma vom "Clash of Civilisations" durch ihre Berichterstattung noch verstärken.

Im Fall Marwa El-Sherbini herrscht eine interkulturelle Diskrepanz in der Rezeption des Mords in beiden Gesellschaften vor.

In Ägypten wurde der Mord an Marwa El-Sherbini in einem deutschen Gerichtssaal als ein gravierender Verstoß gegen die Menschenrechte in einer westlichen Demokratie aufgefasst, die stets auf die Achtung der Menschenrechte bedacht ist.

Die Präsenz des Richters, als Repräsentant des deutschen Rechts, intensivierte die Gefühle des Schocks und der Empörung umso mehr. Hinzu kommt der versehentliche Schuss des Polizisten auf Marwa El-Sherbinis Mann, der seine Frau zu retten versuchte.

Zudem kursierte eine falsche Nachricht in den ägyptischen Medien über eine deutsche Partei, die angeblich den Verteidiger des Angeklagten Alexander W. bezahlen würde.

Ebenso vergaßen die ägyptischen Medien darauf hinzuweisen, dass nicht nur Muslime verschiedener Herkunft ein Angriffziel deutscher Rechtsextremisten sind, sondern auch andersgläubige Ausländer aus Asien und Afrika, sowie Juden und deutsche Staatsbürger, die sich für die Verständigung zwischen den verschiedenen Ethnien einsetzen, oder zu sozialen Randgruppen zählen.

Über die zahlreichen politischen Bemühungen und Initiativen deutscher Verbände gegen Rechtsextremismus weiß der Durchschnittsägypter kaum etwas.

"Feindbild Islam" vs. "Feindbild Westen"

Demo (Foto: AP)
In Ägypten erwartet sowohl die Bevölkerung als auch die politische Führung in Kairo, dass es zu einem zügigen Urteil und der Höchststrafe für den Angeklagten kommtBild: AP

Ein Feindbild vom Anderen existiert nur, insofern es konstruiert wird, denn es ist letztendlich ein Bild und entspricht nicht unbedingt der Realität. Das Bild bedeutet nicht, dass der Andere tatsächlich der Feind ist. So reagierten die ägyptischen Medien auf das "Feindbild Islam" in westlichen Medien mit dem "Feindbild Westen".

Damit versuchte man, dem Mörder von Marwa El-Sherbini das Terrorismus-Label in den arabischen Medien und in den Demonstrationen anzuheften. Der in diesem Kontext unpräzise, oft verwendete Begriff "Terrorismus" im arabischen Diskurs ist als Gegenreaktion für den westlichen, ebenso oft verwendeten gleichen Terminus in Bezug auf die Anhänger der muslimischen Religion zu verstehen.

Doch eine defizitäre Berichterstattung auf ägyptischer Seite reicht für Massenmobilisierung allein nicht aus, wenn die allgemeine Stimmung in den arabischen Ländern nicht schon den geeigneten Nährboden dafür geboten hätte. Emotionale und populistische Berichterstattungen über die Opfer der westlichen Politik, aber vor allem über die in den Vereinigten Staaten, sorgen ohnehin für anti-westliche Ressentiments.

Unter anderem sind die Bilder von leidenden Zivilisten in Palästina, im Irak und in Afghanistan zu einem tagtäglichen Bestandteil der Auslandsberichterstattung in den arabischen Medien geworden. Hinzu kommen mehrdeutige, ungeschickte bzw. missverständliche Erklärungen und Handlungen westlicher Politiker, die das Bild einer "islamophoben Festung Europa" erzeugen können. Zwei der bekanntesten Beispiele sind der Karikaturenstreit und der Kopftuchverbot.

Diese medial vermittelte Realität über "interkulturelle Konflikte" wird von vielen Muslimen als Angriff auf die eigene Freiheit aufgefasst, ihre Identität in einem multikulturellen Europa auszudrücken. Inzwischen wird die Wende vom Multikulturalismus zur einseitigen Integration auch in der Wissenschaft thematisiert.

Selbst Intellektuelle, die mit den westlichen Gesellschaften vertraut sind, werfen Fragen auf, inwiefern der Westen die Muslime akzeptiert. Unter dem provozierenden Titel "Hasst der Westen den Islam" benennt etwa der bekannte ägyptische Schriftsteller Alaa al Aswani die Missverständnisse zwischen den Kulturen. Und der Dichter Farouk Goweida kommt gar zum Schluss, dass "der Westen uns niemals akzeptieren würde".

Keiner kann die grundsätzlich guten Beziehungen zwischen Ägypten und Deutschland bestreiten, gerade auf den Gebieten der Wissenschaft und Kultur. Das alltägliche Zusammenleben zwischen Deutschen und Ausländern funktioniert viel besser als dies allgemein angenommen und von den Medien verbreitet wird.

Deutschlandkenner in Ägypten gehen ohnehin von einem fairen Gerichtsurteil aus und einem allmählichen Ende der Empörung. Doch gestaltet es sich schwierig, im gegenwärtig aufgeheizten Klima die Massen zur Vernunft zu bewegen.

"Märtyrerin des Kopftuches"

Demo (Foto: AP)
Zorn auf die "arabische Krise" und autokratische Herrschaft am Nil: Solidaritätsdemonstration für den Journalisten Ibrahim Eissa, der in einem Artikel gewagt hatte, Fragen nach der Gesundheit des Präsidenten zu stellenBild: AP

Amr El Shobaky, politischer Analyst am "Al Ahram Center for Political and Strategic Studies", kritisiert die Reaktionen innerhalb der ägyptischen Öffentlichkeit mit scharfen Worten. Den islamistisch angehauchten Titel "Märtyrerin des Kopftuches", den die Medien kreierten und der ermordeten Marwa El-Sherbini verliehen, lehnt er strikt ab. Marwa El-Sherbini besaß die Zivilcourage, gegen die islamfeindliche, rechtsextreme Einstellung des Täters etwas zu unternehmen.

Abdel Azim Hammad, langjähriger Korrespondent der ägyptischen Tageszeitung "Al Ahram" in Berlin, versucht, ein Bild über ein angeblich "islamfeindliches Deutschland" durch eine Analyse des Rechtsextremismus abzubauen. Und der Ägypter Amr Hamzawy, Politikwissenschaftler am "Carnegie Endowment for International Peace", der an der FU Berlin promovierte, kommt zum Schluss: "Empörung muss sein, aber rational begründet!"

Ein Großteil des ungebändigten Zorns im ägyptischen Mediendiskurs trifft aber die eigene Misere. Die kollektiv wahrgenommene "arabische Misere" steht für die schwierige Situation und die Missstände der politischen und gesellschaftlichen Lage.

Zudem herrscht ein Gefühl der Ohnmacht, wie man aus dieser Krise herauskommt. Geschichten über Misshandlungen ägyptischer Staatsbürger, vor allem Arbeitnehmer im Ausland, sorgen in den letzten Jahren für Schlagzeilen im Land am Nil. Dieser Zustand sorgt bis heute für ein gespanntes Klima in der ägyptischen Öffentlichkeit und erklärt ebenfalls, weshalb sich die Proteste im Fall Marwa El-Sherbinis so vehement entuden.

Ein weiterer Grund für die Empörung der Ägypter war die von den ägyptischen Medien weit verbreitete - wenn auch unbegründete - Befürchtung, der Täter würde als "psychisch Kranker" aus seiner Verantwortung entlassen und demzufolge nicht hart genug bestraft.

Darüber hinaus wurden die ägyptischen Reaktionen durch die herrschenden innenpolitischen Strukturen zwischen dem politischen Regime und den Oppositionsgruppen beeinflusst. Die islamistische Opposition, wie die Muslimbruderschaft, nutzte den Vorfall, um sich politisch zu profilieren.

Als aber die Demonstrationen in Ägypten zu weit gingen, hörten die staatsnahen ägyptischen Medien schnell auf, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, als Marwa El-Sherbini Vater enttäuscht dem arabischen Sender "Al Arabiya" im vergangenen Juli erklärte, es habe ihm eine Beileidsbekundung hochrangiger ägyptischer Politiker gefehlt.

Fehler auf deutscher Seite

Heißt das, dass ausschließlich Übertreibung auf ägyptischer Seite zur Eskalation der Situation führte? Nein, denn es war gerade die Symbolik der Taten deutscher Politiker, die in diesem Moment an Gewicht gewann und hohe Erwartungen in Ägypten weckte.

Für Marwa El-Sherbini wurden in Deutschland zwei Trauerfeiern abgehalten: eine in Berlin, und erst zehn Tage später eine weitere in Dresden, die von deutschen Politikern besucht und im deutschen Fernsehen übertragen wurde. Doch gerade diese Verspätung markierte die Unschlüssigkeit der deutschen Politik.

In diesen zehn Tagen zwischen den beiden Trauerfeiern steigerte sich die Empörung der ägyptischen und muslimischen Öffentlichkeit auf ein hohes Maß derartig, dass bei Teilen der ägyptischen Bevölkerung der Eindruck entstand, bei der zweiten Trauerfeier handele es sich um PR-Krisenmanagement und Öffentlichkeitsarbeit.

Außerdem wurde in den ägyptischen Medien die Frage aufgeworfen, wie rasch wohl die deutschen Behörden reagiert hätten, wenn die getötete Frau, der verletzte Mann und das traumatisierte Kind eine andere Nationalität gehabt hätten - eine Nationalität, die der deutschen Gesellschaft kulturell und geografisch näher gewesen wäre.

Die Tragödie löste zwar Entsetzen und Fassungslosigkeit bei der deutschen Bevölkerung aus, aber ohne eine hohe emotionale Identifikation mit den Opfern.

Nicht im Interesse der Medien

Auch wurde die zögerliche Medienberichterstattung in Deutschland von Muslimen mitunter als diskriminierend wahrgenommen. So ist der Fall Marwa El-Sherbini einer der wenigsten Fälle, wo nicht das Gesagte, sondern das Ungesagte, Gefühle der Ohnmacht und Diskriminierung unter Muslimen auslöste.

Eine weitere Frage betrifft die rein medienökonomische Facette. In einer von konkurrenz- und profitorientierten Denken dominierten Medienlandschaft neigen die Medien zur Überspitzung, dramatischer Stilisierung und Emotionalisierung.

Inzwischen lassen sich selbst in seriösen Medien Tendenzen zur Boulevardisierung entdecken. Es stellt sich vor diesem Hintergrund daher die Frage, warum die Mehrheit der deutschen Medien an Marwa El-Sherbinis Geschichte von Anfang an nur ein begrenztes Interesse zeigten, obwohl es als "human-interest-story" eigentlich ein "Topseller" sein müsste.

Die dramatischen Einzelheiten, die wir bei Ehrenmordopfern zu lesen bekommen, blieben in diesem Fall gänzlich außen vor: die Tatsache, dass Marwa El-Sherbini für das ägyptische Handballnationalteam spielte, dass sie sich auf ihren dreijährigen Sohn im Gerichtssaal warf, um ihn zu schützen und dass sie sich auf die baldige Rückkehr nach Ägypten nach dem Studienabschluss ihres Mannes gefreut hatte.

Hanan Badr ist Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin an der Universität Erfurt. Die DAAD-Promotionsstipendiatin war zuvor als Kommunikationswissenschaftlerin an der Universität Kairo tätig.

Autor: Hanan Badr

Redaktion: © Qantara.de 2009