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Macht der Gewerkschaften

12. Januar 2012

Der Deutsche Gewerkschaftsbund gibt sich selbstbewusst und fordert weiter einen Mindestlohn für alle Branchen. Der Unterstützung in der Bevölkerung kann er sich dabei sicher sein.

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Gewerkschafter ziehen in einem Protestzug durch die Innenstadt von München. Foto: Diether Endlicher
Bild: AP

Keiner kann so schön die Augenbrauen zu einer sorgenvollen Miene verziehen wie Michael Sommer, der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Der DGB ist die Dachorganisation fast aller deutschen Gewerkschaften. Und wenn deren Chef Michael Sommer seinen Worten Nachdruck verleihen will, zieht er die Stirn so in Falten, dass seine Brauen die Form einer Welle annehmen. Ein Blick, der hängenbleibt. So auch am Mittwoch (11.01.2012), als Sommer in Berlin die Hauptstadtjournalisten zur jährlichen Bilanz-Pressekonferenz geladen hat. Sommer tritt ans Pult, begrüßt die anwesenden Korrespondenten, setzt die Sorgenfalten-Miene auf und legt los mit seiner Einschätzung zur Lage der Nation.

Eine Friseuse färbt einer Kundin die Haare (Foto: DW)
Kaum Geld am Monatsende – Niedriglöhne gibt es auch bei FriseurenBild: Jan Schilling

Und dabei darf natürlich nicht sein Lieblingsthema fehlen: die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn. Den gibt es nämlich in Deutschland trotz jahrelangen Protests der Gewerkschaften noch immer nicht. Aber im vergangenen Jahr ist Bewegung in die Debatte gekommen, als sich sogar die konservative Regierungspartei CDU von Angela Merkel immerhin indirekt für eine verbindliche Lohnuntergrenze für alle Branchen aussprach. Und so hofft der DGB-Chef wohl, dass es vielleicht doch in diesem Jahr endlich klappen könnte. "Menschen müssen von ihrer geleisteten Arbeit leben können, auch im Alter", sagt Sommer und zieht die Brauen noch krauser als vorher. Dann wiederholt er die Forderung des DGB: Das Land brauche einen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde.

Mehr Macht durch die Finanzkrise

DGB-Chef Michael Sommer Foto: Caroline Seidel (dpa)
Michael Sommer, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB)Bild: picture-alliance/dpa

Michael Sommer ist ein Mann, der sich im politischen Berlin Gehör verschafft, der es mit seinen Pressekonferenzen immer in die "Tagesschau", die Haupt-Nachrichtensendung im deutschen Fernsehen, schafft. Und der regelmäßig die Bundeskanzlerin trifft und ihr ins Gewissen reden kann. Dabei steht Michael Sommer einer Organisation vor, deren Mitgliederzahl in den vergangenen 20 Jahren um etwa die Hälfte sank. Von rund 11,8 Millionen Mitgliedern im Jahr 1991 waren 2010 gerade mal noch 6,1 Millionen übrig. "Die Gewerkschaften haben trotzdem noch immer großen Einfluss", sagt Oliver Stettes vom Institut der Deutschen Wirtschaft (IW): "Gerade die Finanzkrise hat dazu beigetragen, dass die Menschen ihnen wieder mehr Bedeutung beimessen."

In einer Umfrage des Allensbach-Instituts von 2011 hielten 39 Prozent der Befragten die Gewerkschaften für wichtig. Im Jahr 2006 waren es nur 30 Prozent. "Das liegt daran, dass der DGB Themen wie den Mindestlohn aufgreift, das ist den Leuten wichtig", analysiert Oliver Stettes. Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt auch Heiner Dribbusch von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. "Mit diesem Thema ist es dem DGB gelungen, eine breite Öffentlichkeit für ihre Themen zu interessieren und eigentlich alle politischen Parteien zu überzeugen", so Dribbusch.

Trotz der Finanzkrise wächst in Deutschland die Wirtschaft. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist 2011 um drei Prozent gestiegen. Die Arbeitslosenquote lag im vergangenen Jahr bei 7,1 Prozent – und damit 0,6 Prozentpunkte unter dem Wert von 2010. "Trotz der guten Konjunktur haben die Gewerkschaften während der Krise moderate Lohnforderungen gestellt, das ist gut angekommen", bilanziert Oliver Stettes.

Der Staat bleibt außen vor

Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einer Veranstaltung der IG Metall (Foto: dpa)
Nimmt die Gewerkschaften ernst: Bundeskanzlerin Angela Merkel bei der IG MetallBild: picture-alliance/dpa

Im europäischen Vergleich sind in Deutschland relativ wenig Beschäftigte Mitglied einer Gewerkschaft. Laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) liegt die Quote bei knapp 19 Prozent. In Finnland und Schweden, beides Länder, die traditionell eine starke Gewerkschaftsbindung haben, sind es 70 Prozent. "Diese hohen Zahlen sind allerdings auch darin begründet, dass die Gewerkschaften in Skandinavien direkt in die Verwaltung der Arbeitslosenversicherung eingebunden sind", erläutert Heiner Dribbusch von der Hans-Böckler-Stiftung.

Dass der DGB noch vor der nächsten Bundestagswahl 2013 seine Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn durchsetzen kann, hält Dribbusch durchaus für möglich: "Die Zeichen stehen günstig." Sein Kollege vom Institut der Deutschen Wirtschaft sieht das allerdings anders: "Es wird vielleicht Mindestlöhne für einzelne Branchen geben, wie kürzlich in der Zeitarbeit, aber nicht eine verbindliche Lohnuntergrenze für alle", meint Oliver Stettes.

Deutschland ist im europäischen Vergleich in der Minderheit: 20 von 27 EU-Mitgliedsstaaten haben eine solche Regelung. In Deutschland wurde dagegen bisher die Tarifautonomie hochgehalten: Der Staat mischt sich nicht in die Lohnverhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ein. Und das wird vermutlich auch so bleiben, so dass Michael Sommer bei der nächsten Jahres-Pressekonferenz erneut sorgenvoll die Brauen verziehen und der geneigten Hauptstadtpresse wieder einmal einen Vortrag über sein Lieblingsthema halten wird.

Autorin: Friederike Schulz
Redaktion: Miriam Klaussner