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Die langwierige Geburt der Großstadt Prag

10. Januar 2002

- Erst vor 80 Jahren wuchs die Stadt über ihre mittelalterlichen Grenzen hinaus

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Prag, 9.1.2002, PRAGER ZEITUNG, deutsch, Jan Doxa

Fallen große Entscheidungen auf den 1. Januar, dann vermischt sich die Erinnerung mit den Silvester- und Neujahrsfeiern. Im schlimmeren Fall wird sie von diesen sogar völlig überdeckt. Die Geburt der Tschechischen Republik am 1. Januar 1993 gehört zu diesen "unglücklichen" Daten. Ähnlich die Entstehung der Großstadt Prag, wie wir sie heute kennen. Denn vor 80 Jahren, am 1. Januar 1922, trat das Gesetz über Groß-Prag in Kraft. Schon zwei Jahre früher hatte das tschechoslowakische Parlament das entsprechende Gesetz verabschiedet.

Groß-Prag waren schon Groß-Brünn/Brno und Groß-Olmütz/Olomouc zuvorgekommen. In Brünn und Olmütz spielten nationalpolitische Momente eine ausschlaggebende Rolle. Die Eingemeindung der vorwiegend tschechisch bewohnten Vororte wurde dort relativ schnell nach der Staatsgründung von 1918 abgeschlossen. Anders in Prag. Hier gab es keine derartigen Gesichtspunkte. Groß-Prag sollte einzig eine würdige Hauptstadt der jungen Republik werden. Der Vorschlag wurde schon im November 1918 unterbreitet, als die Wellen der nationalen Gründungseuphorie noch hoch schlugen. Vater des Gedankens war Alois Bures, stolzer Bürgermeister der damals noch selbständigen Königlichen Weinberge/Kralovske Vinohrady.

Prag war auch in den vorangehenden Jahrhunderten durch Zusammenschlüsse gewachsen. 1784 hatte Kaiser Josef II. angeordnet, dass die selbständigen Städte Prager Altstadt, Prager Neustadt, Kleinseite und Burgviertel vereinigt werden. Bald zeigte sich allerdings, dass auch dieser Rahmen zu klein war für die Hauptstadt der böhmischen Krone. Die Zeit der Industrialisierung verlangte den Bau von Fabriken, von Mietshäusern für die Arbeiter und von Villen mit großen Gärten für die Fabrikherren. Dafür war im historischen Stadtkern kein Platz. Die Stadt wuchs über ihre Mauern. 1817 wurde Karlin gegründet, 1837 Smichov. Beide blieben aber selbständig. 1849 wurde zwar über ihre Eingemeindung gemeinsam mit dem Vorort Vysehrad und dem an der Moldau gelegenen Stadtteil Josefov diskutiert. Das Ergebnis: Einzig Josefov wurde angeschlossen.

Damals scheiterte das Projekt an den Einwänden hoher Militärs. Prag war Festungsstadt, die Stadtmauern sollten deshalb nicht überschritten werden. 1866 zeigte sich, wie illusorisch dieser Anspruch war. Im preußisch-österreichischen Krieg öffnete Prag ohne einen Schuss den feindlichen Preußen die Tore.

Der Kaiser in Wien gab nun nach und versprach, Prag nicht mehr als Festungsstadt zu betrachten. Die österreichische Bürokratie sah das wohl anders. Jedenfalls blieb die Stadt an der Moldau noch bis 1874 Festung. Aber dann wurden die Mauern nahezu über Nacht eingerissen. Nun hätten endlich die Vorstädte eingemeindet werden können. Inzwischen waren zu Karlin und Smichov noch Holesovice-Bubny, Bubenec, Nusle, die Königlichen Weinberge und seit 1875 auch Zizkov hinzu gekommen. Heftig wurde diskutiert. Wiederum stellte sich nur ein mageres Ergebnis ein: 1883 wurde Vysehrad und im folgenden Jahr Holesovice-Bubny angeschlossen.

Die Bürger der Königlichen Weinberge haben damals ein ganz besonderes Kapitel Stadtgeschichte geschrieben. Hier fand ein Referendum über den Anschluss an Prag statt. Die überwiegende Mehrheit der Bürger stimmte dafür. Doch schon damals wurde hinter den Kulissen manipuliert. Wegen angeblicher Formfehler wurde das Referendum für ungültig erklärt. Und dann überzeugten die Ratsherren die Bürger der Königlichen Weinberge, dass ihr Entscheid gar nicht gut war. Und sie argumentierten mit dem Geldbeutel: Als Prager hätten auch die Bewohner der Königlichen Weinberge einen Steuerzuschlag zahlen müssen, der um 8,33 Prozent über dem der Vorstädte lag. Und das war ausschlaggebend.

Die Weinberge und andere größere Vorstädte, die es inzwischen zu Kreisstädten gebracht hatten, hielten nun zäh an ihrer Unabhängigkeit fest. Sie legten ihre Wasserleitungen aus, bauten eigene Gaswerke, nahmen Tram-Linien in Betrieb, hatten ihre eigenen Krankenhäuser, Kathedralen und sogar - wie die Königlichen Weinberge - ihr eigenes Theater.

Die kleinen und weiter draußen liegenden Gemeinden dagegen strebten die Eingemeindung an. Ihnen fehlten die Mittel für den Aufbau einer eigenen Infrastruktur. Einer möglichen Eingemeindung standen jedoch die politischen Grenzen der Kreise entgegen, jede Änderung unterlag der Zustimmung des Landtags. So durfte sich 1901 einzig der nordöstliche Vorort Liben Prag anschließen. 1907 sollten Dejvice, Bubenec, Podoli und Stresovice folgen, 1908 schließlich Branik und Nusle. Prag hätte dann wie eine sich an der Moldau entlang windende Schlange ausgesehen. Doch zu dieser Zeit tagte der Landtag schon nicht mehr, Prag musste noch bis 1922 warten. (ykk)

Der Autor ist Historiker in Prag.