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Die Kunst-Guerilla

Oliver Samson4. April 2004

Achtung, Kunst: Graffiti war gestern, heute ist "New Street Art". Die aufgeklebten Papierstücke haben die Metropolen erobert. Zu sehen auf den Straßen und inzwischen auch in Galerien.

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Sie sehen Kunst. Und eine OrdnungswidrigkeitBild: obey the giant, Foto: Ezba

Wer mit offenen Augen durch die Metropolen der Welt läuft, dem wird fast zwangsläufig eine Veränderung auffallen: Explosionsartig haben sich auf Stromkästen, Häuserwänden, Bretterzäunen und Laternenpfählen die "Sticker" vermehrt - aufgeklebte Poster aus mehr oder weniger aufwändig bedrucktem, bespraytem oder bemaltem Papier. "Post-Graffiti", "Urban Art" oder "New Street Art" nennt sich dieses Phänomen - und es geht dabei nicht nur darum, irgendwo seinen Namen zu hinterlassen.

Die Straße zurückerobern

Avantgardistische Kunst soll provozieren, ärgern, unbequem sein, zumindest jedoch überhaupt Reaktionen auslösen. Insofern kann es eigentlich keine hochwertigere Kunst als "Street Art", Straßenkunst, geben. Dem einen sind Stickers ebenso wie gesprühte Graffitis schlicht Verunstaltungen - und dazu oft Sachbeschädigungen, die mit großem Aufwand entfernt und polizeilich verfolgt werden müssen. Die Street Art-Theorie versteht sich hingegen als (sub-)kulturelle Befreiungsbewegung. "Reclaim the Streets", die Straße zurückzuerobern, lautet das klassische, von anarchistischem Pathos angehauchte Schlagwort. Kunst soll dieser Auffassung nach nicht nur in Museen und Galerien vor sich hinschlummern, sondern im öffentlichen Raum für jeden frei zugänglich sein - und einen Gegenpol zur flächendeckenden Bilder- und Botschaftswelt der Werbung bilden. Ob das dann illegal ist, gilt als peripher.

Des Forschers Erleuchtung auf dem Klo

Graffiti-Forscher Axel Thiel beschäftigt sich seit bald drei Jahrzehnten mit der sich stetig ausdifferenzierenden Street Art. Der 55-Jährige beobachtet sie "interessiert von oben", wie er sagt. "Ich kam darauf, als ich in der Uni Kassel auf dem Klo saß und die ganzen Graffitis gesehen habe." Seitdem dokumentiert und archiviert er, was er unter die Augen bekommt, klärt auf und versucht vor allem die Diskussion über Street Art zu "versachlichen", wie er betont.

Thiel wendet sich vehement gegen die "Kriminalisierung" der "jungen, hoch kreativen" Street Art-Szene, seien dies nun Kleber oder Sprayer. Damit sei letztlich nur der "Maler-Branche" gedient - Thiels Berechnungen zufolge werden weltweit stolze 70 Milliarden Dollar per annum mit der Entfernung von Graffitis umgestzt.

Kleben kommt billiger denn Sprayen

Die Hinwendung zu Stickers sieht Thiel nicht zuletzt im polizeilichen Verfolgungsdruck begründet. Es habe schon Schadensersatzforderungen von bis zu 250.000 Euro gegen Graffiti-Sprayer gegeben. "Wer beim Kleben erwischt wird, kann mit einer weit harmloseren Verfolgung rechnen", sagt Thiel.

Christian Hundertmark
Christian HundertmarkBild: Christian Hundertmark

Einer dieser Künstler ist C100 alias Christian Hundertmark. Er hat mit "The Art of Rebellion" 2003 das erste Buch über die neue Lust am Kleben veröffentlicht. 70 der mitunter öffentlichkeitsscheuen und meist unter Pseudonym arbeitenden Künstler werden darin per Werkporträt vorgestellt. Sie sind zwischen 29 und 35 Jahre alt und meist ehemalige Sprayer, die neue Ausdrucksformen gesucht und gefunden haben. Auch der 29-jährige Hundertmark ist einer dieser "Grown up"-Graffiti-Künstler - und überhaupt quasi ein Prototyp der Klebe-Künstler: Er hat ein Grafikdesign-Studium hinter sich, arbeitet in einer Münchener Agentur und hat wenige ideologische Berührungsängste mit der "seriösen" Kunstszene. "Das sind vielleicht die Hauptunterschiede zu Graffiti - dass alles viel lockerer gesehen wird und die Leute mehr können, als nur ihren Namen zu sprühen", sagt er.

Erfolg willkommen

Und so ist bei aller stolzen Subversivität auch kommerzieller Erfolg durchaus willkommen. Unlängst wurde etwa "Obey the Giant", einer der Stars der Szene, nach einer Klebeaktion mal wieder eingebuchtet, die Werke des Amerikaners haben aber längst auch den Weg in die teuren Galerien gefunden. "Da die Streetart-Leute meist eben schon ein bisschen älter als 19 sind, wissen sie wie man sich zu einer Marke macht", sagt C100. Und auch im Erfolg ist Hundertmark nicht ganz untypisch: Die erste Auflage seines Buches ist längst ausverkauft, er hat sich ein weltweites Netzwerk aufgebaut und organisiert gerade eine Ausstellung in Galerien in London und München.