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Die große Parteienvermehrung

Christoph Hasselbach20. September 2016

Nach der Berliner Wahl ziehen nicht weniger als sechs Parteien in den Senat ein. Das könnte auch im Bundestag passieren. Ist das ein Problem für die Demokratie? Und wie ist es in anderen Ländern? Fragen und Antworten.

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Symbolfoto Kaninchen (Foto: Imago/Nature Picture Library)
Bild: Imago/Nature Picture Library

Ist eine starke Auffächerung der Parteien normal?

Die Zeit der großen Volksparteien, die breiten Wählerschichten etwas bieten konnten, scheint sich dem Ende zu nähern. Jedenfalls ist seit vielen Jahren in fast allen westlichen Demokratien eine Aufsplitterung der Parteienlandschaft zu beobachten. In den 80er Jahren gründeten sich die Grünen als neue Partei, die wie in Deutschland bald stark genug war, in die Parlamente einzuziehen, und sie sind als ernstzunehmende Kraft geblieben. Seit den 90er Jahren sind es vor allem rechtspopulistische Parteien, und auch sie scheinen sich zu etablieren. Die Flüchtlingskrise seit gut einem Jahr hat gerade diesen Parteien noch einmal deutlich Auftrieb verschafft.

Was sind die Gründe für den Wandel?

Prof. Uwe Jun von der Universität Trier meint, "dass sich die Gesellschaft viel stärker ausdifferenziert hat". Andere Werte, Meinungen und Lebensstile seien entstanden, "und diese finden bei den Großparteien keinen Widerhall mehr, weil die Großparteien viel zu breite Interessen abdecken und nicht mehr für spezifische Interessen stehen". Das stelle die Existenz der Volksparteien infrage. Prof. Oskar Niedermayer von der Freien Universität Berlin ergänzt, große Parteien müssten "sehr unterschiedliche Interessen zusammenführen", um groß zu bleiben, man sehe an der Flüchtlingspolitik, in der die Gesellschaft gespalten ist, wie schwer dies den Großparteien falle.

Zwei Männer mit Rauschebärten (Foto: picture-alliance/AP Photo)
Mit den Grünen zog 1983 nicht nur eine neue Partei, sondern auch ein anderer Stil in den Bundestag einBild: picture-alliance/AP Photo

Sind mehr Parteien in den Parlamenten gut oder schlecht für die Demokratie?

Uwe Jun findet es zunächst einmal "positiv und wichtig für die repräsentative Demokratie, dass sich die verschiedenen Werte, Interessen und Meinungen der Bevölkerung" in einem Parlament widerspiegeln. Oskar Niedermayer weist auf die jüngste Bundestagswahl von 2013 hin, bei der sowohl die FDP als auch die AfD knapp an der Fünfprozenthürde scheiterten und insofern deren Wählerinteressen nicht vertreten waren. Eine Sperrklausel ist aber insgesamt unstrittig, weil sie verhindert, dass eine große Zahl von Kleinstparteien ins Parlament kommt. Mögliche Probleme der Parteienaufsplitterung in den Parlamenten sehen beide Politikwissenschaftler für die Regierungsbildung, falls sich verschiedene Parteien nicht zu einer Regierung zusammenfinden können oder wollen.

In welchen Ländern ist die Vielfalt besonders groß?

Das Paradebeispiel in Europa ist Italien. Von Kriegsende bis in die 90er Jahre mussten im Parlament in Rom immer wieder Koalitionsregierungen von bis zu sechs Parteien gebildet werden. Da ein Konsens unter so vielen Partnern kaum möglich ist und die ideologischen Unterschiede zum Teil beträchtlich waren, zerbrachen die Koalitionen meist nach kurzer Zeit. Durchschnittlich dauerten die vielen von den Christdemokraten angeführten Koalitionen in dieser Zeit weniger als ein Jahr. Auch in Israel sind, begünstigt durch eine niedrige Sperrklausel, oft mehr als zehn Parteien in der Knesset vertreten, Koalitionsregierungen von fünf und mehr Parteien mit entsprechend schwieriger Regierungsbildung sind seit der israelischen Staatsgründung der Normalfall.

Abgeordnete im Parlament stehen sich gegenüber (Foto: TV Out/via picture-alliance/dpa)
Das britische Unterhaus bildet bereits baulich ein Zweiparteiensystem abBild: TV Out/via picture-alliance/dpa

Welche Gegenbeispiele gibt es?

Das klassische Beispiel eines Zweiparteiensystems in Europa ist Großbritannien. Grundlegend dafür ist das Mehrheitswahlrecht. Nur der Sieger in einem Wahlkreis bekommt einen Sitz im Unterhaus, alle anderen gehen leer aus. Zwar sind im Londoner Parlament zur Zeit mehr Parteien vertreten als im Deutschen Bundestag, doch das britische System sorgt fast immer für klare Mehrheits- und damit Regierungsverhältnisse. Koalitionen hat es gegeben, zum Beispiel die aus Konservativen und Liberaldemokraten unter der ersten Regierung Cameron, aber sie sind selten. Ein Freund des Mehrheitswahlrechts, weil es so klare Verhältnisse begünstigt, war in Deutschland auch der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt. Er fand mit seiner Forderung, das System auch in Deutschland einzuführen, aber nie größeres Gehör.

In Europa gehörte aber bis in die 1980er Jahre auch Österreich dazu, hier mit dem Sonderfall, dass Sozialdemokraten und die konservative Österreichische Volkspartei (ÖVP) fast zwei Drittel der Jahre seit Kriegsende große Koalitionen bildeten. Es war dann gerade diese auf Konsens ausgerichtete "ewige große Koalition", die den Aufstieg der Freiheitlichen Partei, FPÖ, beförderte. Ebenfalls ein klassisches Zweiparteiensystem war bis vor wenigen Jahren Spanien, bestehend aus der konservativen Volkspartei und den Sozialisten. Heute sind es vier Parteien. Uwe Jun sagt, diese vier täten sich mit der Regierung noch schwer, weil sich in Spanien "klassische Lager" etabliert hätten und beide Lager ihre Mehrheitsfähigkeit nicht herstellen könnten.

Kanzler Schmidt am Rednerpult (Foto: picture-alliance/dpa)
Der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt war für die Einführung des Mehrheitswahlrechts in DeutschlandBild: picture-alliance/dpa

Wie wird sich das Parteiensystem in Deutschland verändern?

Jun sieht bei einem Fünf- oder Sechsparteiensystem im Parlament keine Gefahr für die Regierungsfähigkeit. Die deutschen Parteien hätten eine Art "Koalitionsstabilität" herausgebildet. Nach einer Regierungsbildung würden sie über die gesamte Legislaturperiode "kompromissbildende und konsensbildende Mechanismen" entwickeln. Auch Oskar Niedermayer sieht "keine Gefahr, dass wir italienische Verhältnisse in Deutschland bekommen". Scheitere eine komplizierte Koalitionsbildung, "haben es die beiden Großen noch immer geschultert". Die Einführung eines Mehrheitswahlrechts wie in Großbritannien sieht Niedermayer kritisch. Beim Mehrheitswahlrecht sei es "höchstes Ziel, eine handlungsfähige Regierung zu bilden", im schlimmsten Fall werde eine hauchdünn unterlegene Minderheit gar nicht repräsentiert, "weil die Mehrheit eben Mehrheit ist". Das Verhältniswahlrecht bilde viel besser die unterschiedlichen Interessen im Parlament ab. "Das sollten wir beibehalten, auch wenn durch eine stärkere Fragmentierung des Parteiensystems die Regierungsbildung schwieriger wird. Dann müssen die Parteien eben lernen, damit umzugehen."