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"Wir müssen endlich medienmündig werden"

17. Februar 2018

In der heutigen Welt mit ihrer Informationsflut gilt es unterscheiden zu können: Was ist relevant, welche Quellen sind verlässlich? Grundfragen des Journalismus müssen Allgemeinbildung werden, so Autor Bernhard Pörksen.

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DW Shift Digitale Medien im Kinderzimmer 1
Bild: DW

Die Veränderung kommt schleichend, so Pörksens Befund, und sie ist nicht aufzuhalten. Kein Tag vergeht ohne Push-Nachrichten, kein Augenblick ohne Aufreger. "Jeder, der ein Handy in der Tasche trägt, der postet und kommentiert, Nachrichten und Geschichten teilt oder ein Handyvideo online stellt, wirkt daran mit, die Erregungszonen der vernetzten Welt endgültig zu entgrenzen." Wohin das führt? Pörksen nennt es "Erregungskybernetik". Die Folge: ein Zustand von kollektiver Verstörung, eine Dauerirritation.

Professor Bernhard Pörksen, Medienwissenschaftler an der Universität Tübingen
Bernhard PörksenBild: privat

Darunter, so Pörksen, leiden Sprache, Urteilsvermögen und Handlungsfähigkeit ganzer Gesellschaften. Mit seinem bei Carl Hanser in München erschienenen Buch "Die Große Gereiztheit – Wege aus der kollektiven Erregung" hat der Tübinger Medienwissenschaftler jetzt eine Zustandsbeschreibung des medialen Wandels im digitalen Zeitalter vorlegt. Er hält diesen für tiefgreifender und folgenreicher als alle medialen "Revolutionen" davor – gleich ob die Erfindung der Schrift, der Druckerpresse, des Telegraphen, des Telefons, des Radios, Fernsehens oder des Internets.

Haarsträubende Beispiele

Pörksen beschreibt und analysiert diesen Wandel anhand vieler Beispiele. Sie alle stammen aus der schönen neuen Medienwelt, deren Teil wir längst geworden sind und deren Mechanismen wir uns kaum mehr entziehen können. Pörksens Beispiele klingen so unverfänglich wie gruselig. Da ist etwa die Geschichte des 13-jährigen Berliner Mädchens, das Ärger in der Schule hatte und deshalb über Nacht nicht nach Hause kommt. Am nächsten Tag erfindet sie das Märchen von der Entführung und Vergewaltigung durch südländisch aussehende Geflüchtete. Die Geschichte macht die Runde in den sozialen Netzwerken, mobilisiert die Gemeinde der Russlanddeutschen, der das Mädchen angehört. Russische Medien spielen die Sache hoch. Neonazis demonstrieren gegen Flüchtlinge. Russlands Außenminister beschwert sich bei der deutschen Regierung. Die Notlüge eines Mädchens hat einen Tsunami der Entrüstung ausgelöst. Wie konnte das passieren?

Digitale Teams von Amnesty International verifizieren Videos von Menschenrechtsverletzungen.
Amnesty verbreitet Videos von MenschenrechtsverletzungenBild: ARD Aktuell

Nach Ansicht Pörksens steckt die mediale Verbreitung von Informationen in der Krise: Gewissheiten würden - in Zeiten der Bild- und Videofälschung, der gekauften Trolle, der Geheimdienstaktivitäten, der Fake-Profile und Social Bots sowie perfekt orchestrierter Propaganda - immer fragwürdiger. Die Angst vor postfaktischen Zeiten gehe um. Zudem verliere der etablierte Journalismus in vielen Ländern an Einfluss, während zugleich Hassbotschaften durchs Netz rasten. Politiker und Verantwortliche verlören an Akzeptanz und könnten im Handumdrehen an den Pranger gestellt werden. Eine neue Leichtigkeit der Skandalisierung macht es möglich.

Pörksen fordert Medienmündigkeit

Folgt man Pörksens Medienanalyse, so wird einem angst und bange: Werden unsere Kinder zu Getriebenen? Werden sie die Welt noch so sehen, wie sie ist? Oder müssen sie kapitulieren vor einer Kommunikationsanarchie, in der große Gereiztheit herrscht und die die Welt in ein trübes Licht aus distanzloser Bösartigkeit taucht?

Buch "Die Große Gereiztheit"
Buchcover "Die Grosse Gereiztheit"Bild: Hanser Verlag

Ganz so kulturpessimistisch entlässt der Autor seine Leser aber dann doch nicht. Denn aus seinen Betrachtungen leitet er einen Bildungsappell ab. Pörksen schwebt eine Utopie von der "Redaktionellen Gesellschaft" vor. Darin treffen Menschen reflektierte Entscheidungen. Sie fragen nach der Glaubwürdigkeit und Relevanz von Informationen. Grundfragen des Journalismus werden zu einem Element der Allgemeinbildung. "Zu diesem Zweck braucht es ein eigenes Fach an den Schulen", fordert Pörksen. Die Menschen müssten "medienmündig" werden.

Woher Pörksen seinen Optimismus nimmt, damit die Auswüchse der Digitalisierung abmildern zu können, bleibt offen. Dennoch hat der Tübinger Medienwissenschaftler seine Analysen und Denkanstösse auf gut 200 Buchseiten gut begründet. Und sollte die Berliner Koalition aus Union und SPD in den nächsten Wochen zustande kommen, so könnte Pörksens "Die Große Gereiztheit" auf den Regierungsbänken ausliegen – als Handreichung für die Medienpolitiker, die Bildungspolitiker und die Gründer eines künftigen Digitalministeriums.

Bernhard Pörksen, Jahrgang 1969, studierte Germanistik, Journalistik und Biologie und ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. "Die große Gereiztheit - Wege aus der kollektiven Erregung" erscheint am 19.02.2018 im Hanser Verlag München.