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Die Folgen des "Brain-Drain"

Oliver Samson11. Juni 2003

Eine aufwändige Studie der Bundeswehr hat enorme regionale Unterschiede bei der Intelligenz der Deutschen festgestellt - jahrelang galten diese Daten als zu brisant für eine Veröffentlichung.

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Schwarz schlau, weiß doof: Kartierung der Intelligenz

Seit 1965 führt die Bundeswehr neben der körperlichen Untersuchung auch Intelligenztests bei den Wehrpflichtigen durch. Seit langem stellt der Psychologische Dienst der Bundeswehr dabei auffällige regionale Leistungsunterschiede fest. Die Auswertung dieser Tests wurde nun sowohl in der Menge der erhobenen Daten als auch in der regionalen Differenzierung erweitert: Die Untersuchung basiert auf den Tests von 248.727 jungen Männern im Alter von 18 und 22 Jahren, die 1998 bundesweit bei ihrer Musterung für die Bundeswehr einen mehrstündigen Intelligenztest machten. Die riesige Datenmenge wurde differenziert in 83 Kreise ausgewertet. Die Ergebnisse sind eindeutig: "Verlust von Humankapital in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit" lautet der Titel der Studie.

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Brain-drain nach Süden

Als zentrales Merkmal der Untersuchung wurde von den Forschern der regionale Durchschnittswert der Intelligenz (RDI) berechnet. Als weitere Prüfmerkmale wurden fünf weitere Faktoren in die Untersuchung einbezogen, um die gewaltigen Unterschiede zu erklären: Wirtschaftskraft, Arbeitslosigkeit, Binnenwanderung, Urbanität und die jeweilige regionale Abiturientenquote. Eindeutiges Ergebnis: Die hohe Abwanderung aus einer Region mit hoher Arbeitslosigkeit bedingt ein niedriges Niveau regionaler Intelligenzleistung, weil vorwiegend besser gebildete, für die intellektuelle Förderung ihrer Kinder aufgeschlossene Familien wegziehen. In der Sprache der Studie heißt dies, dass "kognitive Fähigkeiten und sozioökonomischer Status wechselseitig voneinander abhängen". Zu deutsch: Kinder aus wohlhabenderen Gegenden erbringen weitaus bessere Leistungen.

"Ausbluten" der Intelligenz

Die Folge: Ganze Regionen der östlichen Bundesländer "bluten aus", wie dies Heinz Jürgen Ebenrett vom federführenden Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr (SOWI) in Strausberg ausdrückt. "Die Leistungsstarken gehen in den Süden – beziehungsweise sie sind schon da." Dieses Phänomen des "brain drain" (etwa: Gehirn-Abfluss) führe direkt zu einem "Circulus vitiosus", wie es in der Studie heißt: Ein Teufelskreis aus ständiger Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und der beruflichen Qualifikation der übrig gebliebenen Bevölkerung. Die Kultusministerkonferenz hat sich die Originalunterlagen der Studie inzwischen ebenso kommen lassen wie diverse Landesministerien – natürlich vorwiegend aus den östlichen Bundesländern. "Dort macht man sich selbstverständlich große Sorgen", sagt Ebenrett.

Nach Ebenretts Worten waren die Forscher von den ermittelten Ergebnissen selbst überrascht: „Womit wirklich niemand gerechnet hatte: Wir können schon jetzt die Auswirkungen des Brain-drains aufzeigen." Schon jetzt gebe es regional riesige Mittelwertsunterschiede bei den Intelligenztests. "Für Statistiken sind dies Welten", sagt Ebenrett.

Nord-Süd, Ost-West

Weitaus signifikanter als das Ost-West-Gefälle ist nach der Studie der Unterschied zwischen dem Norden und dem Süden. Und dies auf doppelte Weise: Sowohl im Gebiet der ehemaligen DDR als auch in den alten Bundesländern ist dieses Nord-Gefälle zu beobachten: Acht Kreise stachen bei der Studie durch "weit überdurchschnittliche" Intelligenz heraus - kein einziger davon ist im nördlichen Deutschland. Die Wissenschaftler versuchen dies durch die inzwischen jahrzehntelangen Wanderungsbewegungen zu erklären - und nicht etwa mit unterschiedlicher Bildungspolitik. Trotzdem würden die Ergebnisse der Bundeswehr von einer internen, bundesweit vergleichenden Pisa-Studie bestätigt.

Viel brisanter sind trotzdem die Unterschiede zwischen Ost und West: In den Untersuchungen Anfang der Neunziger Jahre hatten sich dermaßen gewaltige Unterschiede herausgestellt, dass die Forscher von einer Veröffentlichung absahen – und zwar fast zehn Jahre lang. Die Ergebnisse waren für die Gebiete der ehemaligen DDR derart ungünstig ausgefallen, dass die Forschergruppe eine „Emotionalisierung“ der Ost-West-Diskussionen fürchteten. Als Erklärungen boten sich die unterschiedlichen Sozialisationen und Schulsysteme an, aber auch, dass „Ostdeutsche wohl mit psychologischen Leistungstests einfach weniger vertraut waren“, wie Ebenrett heute sagt. Zudem sei bekannt, dass Intelligenztests auch immer kulturspezifisch angepasst werden müssten – BRD und DDR seien demnach kulturell wohl doch noch weit verschiedener gewesen, als viele vermuten würden.