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Elektronische Augen

Steffen Leidel19. Oktober 2007

Die spanische Regierung baut das teure High-Tech-Grenzüberwachungssystem SIVE aus. Es habe die Zahl der Bootsflüchtlinge stark sinken lassen, vor allem in der Meerenge von Gibraltar. Ein Blick hinter die Kulissen.

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Im "Gehirn" des Sive in AlgecirasBild: Steffen Leidel

Das große "Time"-Magazin aus New York nannte ihn einen Helden. Den Franziskaner-Bruder Isidoro Macías aus der südspanischen Hafenstadt Algeciras. 2003 stieg der kleine Mann mit dem weißen Haar und den buschigen Augenbrauen für den "Time"-Fotografen ins Meer. Knietief, mitsamt seines grauen Umhangs und dem goldenen Kreuz auf der Brust, stand er im Wasser, auf dem Arm das schwarze Baby einer Migrantin, die mit einer "patera", so der spanische Begriff für die Flüchtlingsboote in der Meerenge von Gibraltar, nach Spanien gekommen war.

Nigerianerin, Einwandererin mit Kindern, bei Papa Patera in
Die Nigerianerin Augustina kam schwanger nach Spanien. Dort bekam sie die Zwillinge Kevin und KellyBild: Steffen Leidel

Es war die Zeit, als der Strom der "pateras" nicht enden wollte dort, wo Afrika und Europa sich bis auf 14 Kilometer nähern. Fast täglich filmten TV-Kameras Afrikaner, zitternd, zusammengepfercht auf Schlauchbooten, die Haut von der Mischung aus Salzwasser und Dieseldampf verätzt. Darunter auch viele schwangere Frauen. Vor allem um sie und ihre Babys kümmerte sich Bruder Isidoro. Das brachte ihn den Spitznamen "Papa Patera" ein.

Neue Flüchtlingsrouten

Bis zu 20 schwangere Frauen gleichzeitig wohnten in einem Haus des Franziskaner-Ordens. "Die schliefen auf Luftmatratzen", erinnert sich Isidoro. Heute sind nur noch drei Frauen mit insgesamt vier Kindern bei ihm. "Es ist schlagartig weniger geworden. Über die Meerenge kommt so gut wie niemand mehr", sagt Isidoro. "Die spanischen Sicherheitskräfte haben Technologien entwickelt, die dazu geführt haben, dass die Flüchtlinge und die verbrecherischen Schlepper andere Routen nehmen müssen."

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Papa Patera - Bruder IsidoroBild: Steffen Leidel

Bruder Isidoro bezieht sich auf das High-Tech-Grenzüberwachungssystem SIVE (Sistema Integrado de Vigilancia Exterior), das die spanische Regierung seit 2002 an der Südküste ausbaut. Das für die Meerenge zuständige Kontrollzentrum des Systems befindet sich in der Kommandozentrale der Guardia Civil in Algeciras, ein Komplex von schmucklosen Gebäudeblocks mit bröckelnder Fassade gleich neben der Stierkampfarena. Nur selten gewähren die Behörden Journalisten Einblick.

Big-Brother on the Beach

Der Guardia-Civil-Beamte Salvador Gomez führt ins "Gehirn" des SIVE, einen Raum in Neonlicht, mit tiefen Decken und einem Dutzend Bildschirmen. Am Kopfende des Raumes hängt ein riesiger Panoramabildschirm an der Wand. Er zeigt eine Karte der Meerenge, eine der meist befahrenen Wasserstraßen der Welt. Hunderte gelber Punkte sind zu sehen, jeder einzelne steht für ein Schiff. Die Kommandozentrale in Algeciras überwacht insgesamt einen 114 Kilometer breiten Streifen der Meerenge. Fünf rote Dreiecke an der andalusischen Küste markieren die Stationen, wo auf Türmen hochauflösende Video- und Wärmebildkameras installiert sind.

"Das Besondere am SIVE ist, dass es Tag und Nacht schwimmende Objekte orten und sichtbar machen, die kaum über die Wasseroberfläche herausragen und weniger als ein Meter lang sind", sagt Gomez. Derzeit werden neue Kameras installiert. Sie liefern Live-Bilder in Farbe. Per Joystick können die Kameras auf jeden beliebigen Punkt in der Meerenge ausgerichtet werden. Zoom auf die Playa von dem Fischer- und Ferienort Barbate. Touristen lümmeln in der Sonne, Surfer pflügen durch das Wasser. Ein Hauch von Big Brother. Doch zu sagen, die Bilder seien gestochen scharf, ist übertrieben. Die Auflösung reicht zur Wahrnehmung der Silhouetten, mehr ist nicht drin.

Jugendliche wagen Überfahrt

Die Beamten beobachten vor allem den Schiffsverkehr von Süden nach Norden. Immer wenn ein Punkt an der marokkanischen Küste erscheint, wird seine Route verfolgt. Es sind vor allem marokkanische Jugendliche, die die Überfahrt noch wagen, trotz SIVE. "Erst heute morgen haben wir zwei junge Marokkaner in der Meerenge aufgegriffen", sagt Gomez. "Sie haben versucht, mit einem Kinder-Schlauchboot, das in jedem Supermarkt zu kaufen ist, die Meerenge zu überqueren."

Die Jugendlichen wissen: Auch wenn sie von der Polizei erwischt werden, können sie nicht einfach abgeschoben werden. Als Minderjährige genießen sie besonderen Schutz. Dennoch: SIVE sei ein Erfolg, sagt Gomez und verweist auf die Statistik. Im Jahr 2000 sind im Einsatzgebiet der Guardia Civil von Algeciras 13.000 Menschen aufgegriffen worden, die meisten waren per Boot über die Meerenge gekommen. In diesem Jahr sind es bislang weit weniger als 1000.

Lesen Sie im zweiten Teil: Hilft das SIVE Leben retten? Ist Grenzsicherung ein gutes Geschäft?

Das SIVE helfe nicht nur Einwanderer abzuschrecken, sondern auch Leben zu retten, sagen die Beamten der Guardia Civil. Werden Einwanderer vom SIVE entdeckt, laufen Schiffe der Guardia Civil diese an. Auch die Seenotrettung wird alarmiert, falls die Einwandererboote kentern. Außerdem soll das SIVE im Kampf gegen den Drogenhandel helfen. Marokko ist der größte Haschischexporteur der Welt. Auch Kokain wird immer häufiger über Nordafrika nach Europa geschmuggelt. Die Zahl der Drogenhändler, die mit Schnellbooten über die Meerenge rasen, habe abgenommen, meint Gomez. Die Drogenmafia versucht auszuweichen. Bis zu fünf Hochleistungs-Motoren montiert sie inzwischen an ihre Schnellboote und fährt nun die katalonische Küste an, die Ferieninsel Ibiza oder gar die Côte Azur.

SIVE, Algeciras, Grenzüberwachungssystem, Spanien, migration Schiff: Schiff der Guardia Civil, Spanien
Patrouillenboot der Guardia Civil im Hafen von AlgecirasBild: Steffen Leidel

Die spanische Regierung baut das 300 Millionen Euro teure SIVE kontinuierlich aus. Aus dem spanischen Innenministerium heißt es, bereits die gesamte Südküste zwischen Cadiz und Almería werde lückenlos überwacht. Bis 2009 soll das SIVE bis nach Alicante erweitert werden. Für diesen Abschnitt laufen gerade die Ausschreibungen. Einer der Bewerber ist das Unternehmen Amper Sistemas aus Madrid, das im Auftrag des Innenministeriums Ende der 1990er Jahre den Prototypen des SIVE entwickelt hat.

"Nicht das große Geschäft"

Vicente Pastor, Marketing-Direktor des Unternehmens, hofft auf den Zuschlag. "Leider haben wir inzwischen ernstzunehmende Konkurrenz", sagt er. Im Geschäft um die Sicherung der spanischen Küsten hat Amper mit der Siemens-Tochter Tecosa und dem Unternehmen Indra zwei starke Rivalen. Tecosa gewann die Ausschreibung für das SIVE auf den Kanarischen Inseln Lanzarote und Fuerteventura. Bislang ist dort noch keine flächendeckende Kontrolle wie in der Meerenge möglich. Indra hat das SIVE in Almería aufgebaut, und bekam den Zuschlag für die Küste bei Huelva, nahe der portugiesischen Grenze. Portugal plant für seine Südküste, ein SIVE-ähnliches System aufzubauen. "Wir hoffen auf eine Entscheidung in diesem Jahr", so Pastor.

Zwar sei das Interesse an SIVE weltweit sehr groß. Amper Sistemas hat ähnliche Überwachungssysteme in Estland an der Grenze zu Russland sowie in Serbien an der mazedonischen Grenze aufgebaut. "Aber es ist sicher nicht das große Geschäft", räumt Pastor ein. "Bei solch sensibler Technologie vergeben die Regierung Aufträge lieber an heimische Unternehmen".

Schwierger "Markt" Marokko

In Marokko hoffte man auf einen Großauftrag. 2005 hatte die EU versprochen, das Land mit 40 Millionen Euro bei der Grenzsicherung zu unterstützen. Bis heute ist das Geld größtenteils nicht abgerufen worden. "Die EU hat zwar versprochen, die technischen Voraussetzungen für die Grenzsicherung zu finanzieren, nicht aber die Wartung", sagt Pastor. Zu diesen Bedingungen will Marokko nicht mitspielen. Denn die Wartung ist teuer. Allein für die Instandhaltung des SIVE in der Meerenge hat Amper Sistemas ein Team von bis zu 35 Mann vor Ort. Besonders die Infrarotkameras sind empfindlich. Nach etwa 10.000 Betriebsstunden müssen sie überholt werden.

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Brigitte EspucheBild: Steffen Leidel

Politisch bleibt das System umstritten, nicht nur wegen der hohen Kosten. Flüchtlingsorganisationen kritisieren das System scharf. Es habe die Migrationsströme nicht aufgehalten, sondern lediglich umgeleitet, sagt Brigitte Espuche von der Organisation Pro Menschenrechte in Cádiz,. "Die Einwanderer wählen immer weitere, gefährlichere Routen - wie zum Beispiel über die Kanaren". Damit steige für sie das Risiko. "Das ist für mich keine Politik die Leben rettet, sondern eine die tötet", so ihr Urteil.

Alte Reifen als Boot

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Manuel Fenix entwarf eine Vorrichtung, um unterkühlte Einwanderer wieder aufzuwärmenBild: Steffen Leidel

Manuel Fenix vom Roten Kreuz im Surferort Tarifa in der Nähe von Algeciras glaubt dagegen schon, dass das SIVE Leben retten konnte, zumindest in seinem Einsatzgebiet. "Boote, die in Seenot geraten sind, können mit dem System geortet werden und die Rettungskräfte rechtzeitig losgeschickt werden. Früher wären diese Leute ertrunken", sagt Fenix, der unzählige Male von der Guardia Civil Einwanderer in Empfang genommen und erstversorgt hat.

Dennoch glaubt auch er nicht, dass das SIVE die Einwanderer aufhalten wird. "Afrika ist von uns aus nur einen Steinwurf entfernt. Solange die Menschen glauben, hier ein besseres Leben zu finden, werden sie kommen. Da helfen auch noch so viele Kameras nichts."

Dann erzählt Fenix den Fall eines Marokkaners, den sie tot aus der Meerenge zogen. Er hatte sich einen alten Reifen auf die Brust und einen auf den Rücken gebunden. An den Händen baumelten an dünnen Seilen zwei Tischtennisschläger. Der Mann hatte sie als Paddel genutzt. "Die Meerenge bleibt ein großer Friedhof, leider", sagt Fenix. Daran werde auch das SIVE nichts ändern.