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Kein Freiraum mehr

4. Juni 2009

Ein Baumhaus bauen oder auf dem Schulweg kleine Abenteuer erleben – für italienische Kinder sieht die Kindheit ganz anders aus. Sie werden von ihren Eltern wohlbehütet, Freiräume zum Spielen sind selten.

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Auf einem Hochbett mit Kletterwand spielen Kinder (30.08.2006/(AP Photo/Frank Augstein)
Mehr drinnen als draussen: Die Angst der Eltern hält Kinder in den vier WändenBild: AP

"Montags habe ich Klavierunterricht, mittwochs Tanzschule, donnerstags Judo. Da treffe ich auch meine beste Freundin, so können wir wenigstens ein bisschen Zeit miteinander verbringen." Isotta ist zehn Jahre alt und lebt in Mailand. Ihre Nachmittage sind ausgefüllt mit Aktivitäten. Ein voller Terminkalender ist für Isotta ganz normal. Auf der Straße mit den Nachbarskindern zu spielen, sei viel zu gefährlich, sagt die Zehnjährige. "Draußen kommt man sonst unter ein Auto."

Eine Kindheit in vier Wänden

Kinder spielen in einem Kindergarten (20.11.2006/AP Photo/Michael Probst)
Das spielen auf der Straße sei viel zu gefährlich, meinen besorgte ElternBild: AP

Dominique Muret, gebürtige Französin, ist stolz auf ihre so vielseitig interessierte und begabte Tochter. Auch wenn Isotta ein ganz anderes Leben führt, als sie selbst in dem Alter. "Ich erinnere mich an Sachen, da frage ich mich heute, ob ich das eigentlich nur geträumt habe - so unglaublich erscheint mir das inzwischen", sagt sie. Sie habe beispielsweise mit sechs Jahren ihre kleine Schwester alleine in den Kindergarten gebracht und sei dann alleine zur Schule gegangen. "Und unsere Eltern haben uns damals auch alleine zuhause gelassen."

In Mailand dürfen die wenigsten Kinder alleine auf die Straße – und das ist kein italienischer Sonderfall: Nach einer Studie des britischen Innenministeriums spielen 33 Prozent aller Kinder bis zu zehn Jahren nie ohne Aufsicht durch Erwachsene im Freien. Mark Francis, ein amerikanischer Kinderpsychologe, spricht sogar von der "eingesperrten Kindheit". Dabei spielt nicht nur der Verkehr eine Rolle. "Ich würde gerne mehr alleine machen, aber das erlauben meine Eltern nicht, weil mich jemand klauen könnte", erklärt Isottas achtjähriger Bruder Gil.

Rundumüberwachung für die Kinder

baumhaus
Spielen im Wald findet oft nur elterlicher Beaufsichtigung statt

Gils Sehnsucht nach mehr Spielraum - im wahrsten Sinne des Wortes - ist kein Einzelfall. Viele Kinder wünschen sich "mehr Zeit zum Spielen" und meinen damit offensichtlich nicht von Erwachsenen organisierte Aktivitäten, sondern freie Zeitfenster, in denen sie keiner Kontrolle ausgesetzt sind. Dominique Muret würde ihren Kindern gerne mehr Freiraum geben, aber ihr Mann blockiere das. "Er ist nämlich Italiener", erklär sie. Italienische Eltern gelten als besonders beschützend. "Wir haben schon oft darüber diskutiert. Ich denke, man ist in dem gefangen, was die Leute um einen herum denken und sagen", erzählt Dominiques Mann Mauro.

In der Sicherheitsindustrie haben die Elternängste zu einem neuen Boom geführt: Jeder dritte Achtjährige in Italien besitzt ein Handy, damit die Eltern wissen, wo er gerade steckt. Ist er nicht zur vereinbarten Zeit daheim, können die Eltern das Kind via GPS auf zehn Meter genau verorten - eine Art Rundumüberwachung, die immer mehr Telefongesellschaften anbieten. Soweit will es Mauro aber trotz seiner Angst nicht kommen lassen. "Meine Eltern haben sich keine Sorgen um mich gemacht, wenn ich draußen war. Aber heute leben wir in einer Gesellschaft, in der die Kinder eben beaufsichtigt werden müssen."

Abenteuer Schulweg

Blick in ein Tanzstudio, Jugendliche beim Unterrricht (12.11.2007)
Mittwochs Tanzen, donnerstags Judo: Der Terminkalender ist vollBild: DW

Nach Ansicht des Bostoner Psychologen David Elkins übertragen Eltern ihre eigenen diffusen Ängste vor einer komplizierter gewordenen Welt auf ihre Kinder: Sie wollen den Nachwuchs vor all den Gefahren, die in der Welt lauern, beschützen - und vergessen dabei, wie wichtig es für das Selbstvertrauen der Kinder ist, die eigenen Grenzen auszutesten und Wagnisse zu bestehen.

Autorin: Kirstin Hausen
Redaktion: Julia Kuckelkorn / Mareike Röwekamp