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Die eigentliche Herausforderung stellt sich nach dem Wahltag

Karen Fischer19. September 2005

Die relativ hohe Wahlbeteiligung von 50 Prozent allein taugt in Afghanistan nicht als Gradmesser für Erfolg oder Misserfolg der Parlamentswahl, meint Karen Fischer in ihrem Kommentar.

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Hohe Erwartungen gab es im Vorfeld der Parlamentswahlen in Afghanistan. Und wie immer gilt: Wo die Erwartungen groß sind, gibt es auch Enttäuschung und Enttäuschte. Dabei ist es zunächst einmal eine logistische Meisterleistung, in einem so unwirtlichen Terrain wie am Hindukusch Wahlen zu organisieren. Und die Afghanen, die zur Wahl gegangen sind, verbinden damit große Hoffnungen.

Ja, aber - sagen die Kritiker - die offensichtlich niedrige Wahlbeteiligung zeige doch, dass das Wahlkonzept nicht aufgegangen sei. Doch die Wahlbeteiligung zum Gradmesser zu nehmen, wie erfolgreich die Wahlen wirklich waren - das ist zu kurz gegriffen.

Dies gilt allein schon wegen der riesigen Masse an Kandidaten - insgesamt 5800 Personen bewarben sich für das Parlament und die Provinzräte. Allein in Kabul standen 390 Namen auf dem Wahlzettel. Wohlgemerkt als Einzelpersonen, denn Parteien spielen im jetzigen
Wahlsystem keine Rolle. So wollte es Präsident Hamid Karzai, und er hat sich durchgesetzt - gegen den Rat vieler Wahlexperten. Hunderte von Wahlmöglichkeiten führen aber auch zur Überforderung des Wählers. Denn wer die Stimmabgabe wirklich ernst nimmt, muss in einem Land wie Afghanistan erst einmal viel Vorarbeit leisten, um zu
einer Entscheidung zu kommen. Vorarbeit, die allerdings einigen Wählern auf zynische Art und Weise auch abgenommen wurde - durch Drohungen und Einschüchterungen im Vorfeld der Wahlen.

Viele Afghanen standen damit vor einer sehr schwierigen
Wahlalternative: Sollten sie frei nach Gewissen wählen - oder für den regionalen Warlord, der Druck auf sie ausübt? Die Warlords, natürlich alles andere als Muster-Demokraten, sind an Parlamentssitzen durchaus stark interessiert. Sie benötigen sie, um unter dem Deckmäntelchen der Demokratie ihren Einfluss und ihre Machtbasis weiter auszubauen - so die nicht von der Hand zu weisende Befürchtung vieler Afghanen. Das würde allerdings bedeuten, dass sich an den inoffiziellen Machtstrukturen im Lande kaum etwas ändert.

Nur: Wer soll Warlords davon abhalten, ins Parlament einzuziehen - wenn sie offiziell genug Stimmen bekommen? Die Beschwerdestelle der Wahlkommission hat weder das Mandat noch die Ressourcen, um hier tätig zu werden. Und die Regierung wird sich hüten, sich auf diese Weise mit den Warlords anzulegen.

Es gab aber noch einen weiteren Grund, der es vielen Afghanen erschwerte, zur Wahl zu gehen - nämlich pure Angst um das eigene Leben. Denn dass der Wahltag ein potentieller Tag der Gewalt werden könnte, war von vorneherein klar. Nicht umsonst waren am Wahltag die Straßen in der Hauptstadt wie leergefegt, kaum ein Auto,
kaum ein Mensch - wo sonst jeder versucht, sich im Gewirr aus Verkehr, Eselskarren, Radfahrern und Fußgängern seinen Weg zu bahnen. Ein großes Sicherheitsaufgebot von nationalen und internationalen Truppen schützte die Wahl so gut wie möglich.

Dennoch kam es zu blutigen Zwischenfällen wie in der Provinz Kunar, wo drei Wähler bei einer Schießerei ums Leben kamen. Wenn der Urnengang zu einer Frage von Leben und Tod werden kann, dann ist es nicht weiter verwunderlich, dass manche lieber zu Hause bleiben.

Unabhängig von der Wahlbeteiligung ist es noch zu früh, um einen Erfolg oder Misserfolg der Wahlen zu konstatieren. Denn der Wahltag selbst war nur der erste Schritt und zeitlich gesehen der kleinste Teil der Parlamentswahlen. Jetzt geht es ans Auszählen und an die Verifizierung der Ergebnisse. Und auch hier drohen Probleme - spätestens dann, wenn klar ist, wer zu den Siegern und wer zu den Verlierern gehört, und wenn der Kampf um die Sitze losgeht, mit zeitintensiven Wahl-Anfechtungen im besten Fall oder mit Gewalt gegen Wahlgewinner im schlimmsten Fall.

Eine Gefahr sollte schon jetzt nicht unterschätzt werden: Wenn der Prozess sich zu lange hinauszieht, dann dürfte bei Wählern und Kandidaten eine große Frustration einsetzen. Bei weiteren Urnengängen in der Zukunft dürften dann noch weniger Afghanen den Weg ins Wahllokal finden.