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"Die Bruchstücke zusammentragen"

Cornelia Rabitz2. Dezember 2012

Die Geschichte der Juden in Litauen reicht 600 Jahre zurück: von den Anfängen im 14. bis zur Blütezeit am Beginn des 20. Jahrhunderts. Mit der Nazi-Okkupation wurde sie blutig beendet.

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Motiv mit Davidstern auf dem jüdischen Friedhof Vilnius (Foto: DW/Isaiah Urken)
Bild: DW

Emanuel Zingeris ist bedrückt, wenn er an die jüdische Vergangenheit seiner Heimat denkt: "Das Ende der Geschichte von 'Jiddischland', das Ende der grenzüberschreitenden jüdischen Kultur, der stolzen jiddischen Sprache ist eine Tragödie bis heute", sagt der litauische Parlamentsabgeordnete – der zu Hause mit seiner Mutter immer noch Jiddisch spricht. Zingeris hat einen Traum: Er möchte das, was an Spuren, Bruchstücken und Resten des jüdischen Kulturerbes noch vorhanden und in alle Welt verstreut ist, sammeln und in Vilnius zusammentragen. Und dazu alles, was moderne litauisch-jüdische Künstler schaffen und geschaffen haben. Ihm ist dabei bewusst, dass dies nur ein Abglanz früherer Zeiten sein kann.

Der litauische Politiker Emanuel Zingeris vor der alten Barrikade am Parlamentsgebäude (Foto: DW/Sarah Hofmann)
Will jüdisches Erbe bewahren: Emanuel Zingeris vor der historischen Barrikade in VilniusBild: DW/Sarah Hofmann

Verblasste Erinnerung

Der litauische Politiker - der auch einmal Leiter des Jüdischen Museums war - steht vor dem Parlamentsgebäude, dort, wo sich eine Barrikade hinter Glas befindet, die Stein gewordene Erinnerung an den Kampf um die Unabhängigkeit der einstigen Sowjetrepublik. Auch dies ein historischer Ort, der dem 55Jährigen wichtig ist. Erst nach dem Umbruch 1990 wurde es möglich, das große Tabu der Sowjetzeit zu überwinden. Man begann, sich der jüdischen Opfer und der Vernichtung ihrer Kultur zu erinnern. Ein schmerzhafter und keineswegs beendeter Prozess, meint Emanuel Zingeris. Vom Parlament aus ist es nicht weit bis zu dem Viertel, das einstmals das Schtetl war, das jüdische Wohngebiet, das mit dem Überfall der Nazis 1941 zum Ghetto wurde. Die Spurensuche ist heute schwierig, denn es ist praktisch nichts außer einigen kaum sichtbaren Zeichen übrig geblieben. Isaiah Urken, Fotografin und junges Mitglied der jüdischen Gemeinde Vilnius, kennt die wenigen Überbleibsel und hilft bei ihrer Entschlüsselung.

Fassade mit Davidstern in Vilnius /Foto: DW/Isaiah Urken)
Kaum zu sehen: der Davidstern an einer HauswandBild: DW/Isaiah Urken

Glanz und Aufstieg

Die Geschichte des litauischen Judentums ist eine Geschichte von Aufstieg, Blüte und Vernichtung. Großfürst Vytautas machte den Anfang: 1388 bekamen die Juden, die damals in seinem Machtbereich lebten, erstmals eigene Rechte, Privilegien. Aber es dauerte noch etwa zwei Jahrhunderte, bis sich eine größere Anzahl jüdischer Bewohner im Großfürstentum angesiedelt, bis sich Gemeinden, Infrastruktur und ein gewisser Wohlstand entwickelt hatten.

Ein hebräisches Schriftzeichen an einer Fassade in der Altstadt von Vilnius (Foto: DW/isaiah Urken )
Botschaft aus der Vergangenheit - hebräische Schriftzeichen an der FassadeBild: DW/Isaiah Urken

Ab Mitte des 18. Jahrhunderts spricht man dann von einer ersten Blütezeit und Ausdifferenzierung der jüdischen Kultur. Da war einerseits der berühmte und einflussreiche Gelehrte Rabbi Elijahu, der der "große Gaon von Wilna" genannt wurde, eine unumstrittene Autorität in religiösen Fragen. Auf der anderen Seite entstand nach westeuropäischem Vorbild und unter dem Einfluss des deutschen Philosophen Moses Mendelssohn die Bewegung "Haskala" (Aufklärung), die sich für ein modernes Judentum, säkulare Erziehung und gesellschaftliche Integration einsetzte. Es kam zu Feindschaften und Richtungskämpfen zwischen den verschiedenen Gruppierungen.

Statue des Gaon von Vilnius, ein großer Religionsgelehrter aus dem 18. Jahrhundert (Foto: DW/Isaiah Urken)
Würdig und steinern: Der Gaon von WilnaBild: DW/Isaiah Urken

Jerusalem des Nordens

Doch gleichzeitig entfaltete sich von da an bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts ein reiches jüdisches Kultur- und Geistesleben, das sich in wissenschaftlichen und politischen Institutionen, Bildungseinrichtungen, religiösen Zentren, Theatern, Buchverlagen und Zeitungen manifestierte. Vilnius wurde mit seinen 110 Synagogen zum "Jerusalem des Nordens", eine glanzvolle Metropole, deren Attraktivität weit über die Grenzen Litauens hinaus strahlte und Juden aus anderen europäischen Ländern, auch aus dem deutschen Sprachraum, anlockte.

Ein Hofdurchgang im alten jüdischen Viertel von Vilnius (Foto: DW/Isaiah Urken)
So könnte es hier auch früher ausgesehen haben: ein Hofdurchgang im ehemaligen GhettoBild: DW/Isaiah Urken

1925 wurde das YIVO-Institut gegründet, das "Yiddisher Visenshaftlecher Institut" zur Erforschung der jiddischen Kultur und Sprache. Denn Jiddisch war für Litauens Juden die Muttersprache, "mameloschn". Ein aus Mittelhochdeutsch sowie hebräischen, slawischen und anderen Einflüssen zusammengesetztes Idiom, das bis zum Zweiten Weltkrieg überall im Osten Europa gesprochen wurde. Und das große Dichter wie Abraham Sutzkever, Scholem Alejchem, Isaac Bashevis Singer und viele andere hervorbrachte. 1928 gab es bereits einen PEN-Club jüdischer Autoren in Vilnius.

Die Synagoge von Vilnius (Foto: dpa)
Eine blieb übrig: Synagoge in VilniusBild: picture alliance/Arco Images GmbH

Kultursprache Jiddisch

Das mit hebräischen Buchstaben geschriebene Jiddisch sei Produkt der tausendjährigen jüdischen Geschichte Europas, sagt der argentinische Professor Avraham Lichtenbaum: "Es war eine grenzüberschreitende, stolze, europäische Sprache. Wer heute wissen will, wie das jüdische Volk gedacht hat, muss diese Sprache kennen.“ Lichtenbaum, dessen Vorfahren einst aus Deutschland nach Argentinien auswanderten, unterrichtet Jiddisch in Vilnius und Buenos Aires.

Vilnius als eine strahlende Kulturhauptstadt, Litauen als Kulturland europäischer Juden, in dem schließlich 250 000 jüdische Menschen wohnten – und das bedeutende Künstler in die Welt entsandte. Von hier stammten der Geiger Jascha Heifetz, der Maler Chaim Soutine, der Bildhauer Jacques Lipschitz, auch Ludwig Zamenhof, Erfinder des Esperanto, Max Weinreich, Linguist und Jiddisch-Forscher und viele andere, die zur Entwicklung der europäischen Kultur beitrugen. Allen historischen und politischen Einflüssen zum Trotz, denen das Gebiet im Laufe der Jahrhunderte unterworfen war.

Vernichtung und Neubeginn

Die Katastrophe kam im Juni 1941 mit der deutschen Besatzung: Ghettos wurden in Vilnius, Kaunas und in anderen Regionen eingerichtet und zu Orten unvorstellbaren Leidens. Hetzjagden auf Juden begannen, Verhaftungen, Folterungen, Zwangsarbeit folgten. In großem Stil ermordeten SS und Wehrmacht planmäßig unschuldige Menschen auf der Straße oder an eigens eingerichteten Erschießungsplätzen. Litauische Kollaborateure waren dabei willige Helfer. 95 Prozent der Litwaken - so nennen sich die Juden Litauens - haben die Verfolgung nicht überlebt. Im Sommer 1944, beim Einmarsch der Roten Armee, war das Land zum Massengrab geworden

Die Gedenkstätte Paneriai bei Vilnius erinnert an Massenerschießungen von Juden durch SS und Wehrmacht (Foto: DW/Isaiah Urken )
Gedenkstätte: In Paneriai, früher Ponar, wurden zehntausende Juden erschossenBild: DW/Isaiah Urken

Heute gibt es noch knapp 5 000 Juden im Land, die meisten von ihnen sind betagte Überlebende des Holocaust oder ihre Nachkommen. Die wieder gegründeten jüdischen Gemeinden haben Nachwuchsprobleme, junge Mitglieder wie die Fotografin Isaiah sind eine Seltenheit: "Ich bin nicht streng religiös, aber ich kenne die Traditionen und versuche, einige Regeln einzuhalten“, sagt sie und erzählt, dass viele ihrer jüdischen Freunde mittlerweile ins Ausland gegangen seien, auf der Suche nach einem besseren Leben.

Doppelte Last

Die zwei Vergangenheiten des Landes machen den Geschichtsdiskurs schwierig. Zehntausende Litauer, Juden und Nichtjuden, wurden nach 1945 Opfer des sowjetischen Regimes. Bis heute ist es für manche keine Selbstverständlichkeit, dem Mord am jüdischen Volk einen Platz im kollektiven Gedächtnis einzuräumen. Ein kleines Museum erinnert an den Genozid, das moderne, helle Toleranzzentrum mit Ausstellungen und seinem großen Bildungsangebot wendet sich an die jüngere Generation. Das Thema findet sich in Schulbüchern und auf wissenschaftlichen Konferenzen. Immerhin.

Auf dem Jüdischen Friedhof in Vilnius (Foto: DW/Isaiah Urken)
Stilles Gedenken: Auf dem Jüdischen Friedhof VilniusBild: DW/Isaiah Urken

Der Jüdische Friedhof in Vilnius ist ein stiller Ort. Manchmal hört man hier Englisch, Französisch oder Hebräisch. Dann besuchen Nachkommen der Litwaken die Gräber ihrer Angehörigen. Emanuel Zingeris aber trauert nicht nur um die Vergangenheit: "Nach dem Holocaust ist der Untergang der jiddischen Kultur der zweite große Verlust. Trotzdem: Ich möchte, dass diese wichtige und reiche Kultur heute und für die Zukunft wieder sichtbar wird."