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Politik

"Die Aktiven fühlen sich im Stich gelassen"

Nina Haase | Sumi Somaskanda
26. Juni 2017

2015 halfen Münchner Bürger den Geflüchteten am Hauptbahnhof. Daraus entstand 2016 der Verein "Münchner Freiwillige - Wir helfen". Die DW sprach mit der Vorsitzenden Lessig über die Willkommenskultur in Deutschland.

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Deutschland Empfang Flüchtlinge in München - Freiwillige Helfer HBF
Freiwillige Helfer bei der Versorgung von Flüchtlingen im Münchner Hauptbahnhof 2015Bild: picture-alliance/dpa/N. Armer

DW: Was sind heute die Haupttätigkeiten des Vereins?

Marina Lessig: Im Bereich der Flüchtlingshilfe sind sehr viele Menschen, die vorher noch nicht in einer institutionellen Form ehrenamtlich aktiv waren. Da ist ganz stark Anleitung gefragt und Erfahrungsaustausch. Mir geht es auch ganz stark um das Thema visionär denken. Ende des Jahres starten wir beim Kongress "München integriert" einen Anlauf, um zu sagen: Wir haben die erste Phase geschafft, jetzt geht’s wirklich um die Integration. Lasst uns mal wieder neu und frei denken, wie das funktionieren kann.

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Marina LessigBild: DW

DW: Wie erklären Sie sich das, dass hier im Herbst 2015 diese riesige Hilfsbereitschaft entstanden ist - gerade in München hat das ja seinen Anfang genommen.

es ist sehr typisch für München ist, dass man hier zwar seine Gemütlichkeit und seinen Wohlstand schätzt, aber auch immer das Herz am rechten Fleck hat und sagt, Wohlstand und ein angenehmes Leben - daran müssen viele teilhaben. Und dann muss man nochmal sagen: Wer war das denn von den Personen, die hier angepackt haben? Wir haben vorwiegend Helfer gehabt, die waren so Anfang 20 bis Mitte 40 - und wenn man sich deren normalen Lebensalltag anschaut, dann ist ein Ehrenamt in deren Alltag oft gar nicht möglich - also: Gerade in den Job eingestiegen, oder dabei, Karriere zu machen oder Familie zu gründen, befristete Stellen, vielfach umziehen, da kann man sich nicht fest an eine Organisation regelmäßig binden. Das heißt aber nicht, dass diese Menschen nicht gesellschaftlich aktiv sein und Gesellschaft gestalten wollen. 2015 gab es einfach die Möglichkeit für jeden, spontan ungebunden aktiv zu werden und auch in wenigen Stunden einen sehr sinnvollen Beitrag zu leisten.

DW: Wenn Sie es vergleichen müssten: Was wurde damals von ihrem Verein gebraucht und was heute?

2015 ging es wirklich darum, menschliche Katastrophen zu verhindern. Wir wollten, dass jeder Mensch, der einen leidvollen Weg hatte und hier ankommt, das erfährt, was aus unserer Sicht die Grundanforderungen an unser Leben sind: Nahrung, ein Dach über dem Kopf, vielleicht eine Rückzugsmöglichkeit und einfach mal wieder freundliche Nähe erfahren. Inzwischen hat sich das sehr stark gewandelt. In vielen Unterkünften gibt es sehr viele, die schon längst anerkannt sind, die keine Wohnung finden. Die Herausforderung jetzt ist: Wie gelingt denn das Leben? Wie gelingt denn die Integration in der Normalität? Es geht darum, Normalität zu erschaffen. Das bedeutet für uns ganz stark das Thema Wohnen, das bedeutet aber auch für uns Freunde werden, also kein Helfer-Geholfenem-Verhältnis aufzubauen, sondern vielmehr Begegnungen zu schaffen, die ungezwungen sind. Es geht aber auch ganz stark um das Thema Behördenbegleitung, Dolmetschen und auch Bildung. Auf der einen Seite sicherlich die berufliche Bildung. Bei manchen ist es aber auch Alphabetisierung als erster Schritt und auch das was uns allen selbstverständlich erscheint. Vieles was uns selbstverständlich erscheint ist eigentlich sehr lange erlernt und trainiert und da muss Geflüchteten geholfen werden ihnen eine Orientierung zu bieten und zu sagen: Schau so funktioniert das Leben hier.

DW: Viele Geflüchtete stellen sich die Frage: was will Deutschland von uns? Wollen die, dass wir Flüchtlinge bleiben und dieses Label behalten, weil das ja impliziert, dass wir irgendwann zurückgehen? Oder sollen wir uns integrieren? Sehen Sie diesen Zwiespalt der Menschen hier auch?

Ich sehe diesen Zwiespalt. Ich glaube aber nicht, dass er wirklich gesellschaftlich verursacht ist, sondern dass er politisch verursacht ist. Ich glaube auch wenn man Menschen in unserer Gesellschaft fragt, die kritisch dem Thema Geflüchtete oder teilweise sogar feindlich eingestellt sind: Was wollt ihr, dass diese Menschen tun? Dann werden die immer sagen, die Sprache erlernen und arbeiten. Und ich glaube egal wie positiv, neutral oder negativ man dem Thema eingestellt ist, alle sagen, es ist unmöglich wenn Leute hier kleben und nicht arbeiten dürfen.

DW: Wo steht die Willkommenskultur heute?

Ich habe schon den Eindruck, dass medial und politisch der Eindruck entsteht, dass das zurückgegangen sei. Das ist aber nicht meine Alltagserfahrung. Meine Alltagserfahrung ist, dass Helfer unglaublich frustriert sind und sagen: Wieso sitzen wir eigentlich nicht bei diesen ganzen Podiumsdiskussionen auf dem Podium, sondern die AfD? Warum sind wir eigentlich mit unserem Helferkreis in unserer Pfarrei aktiv und der Papst sagt uns, es ist unsere Pflicht als Christen und unsere CSU sagt, "um Gottes willen, jetzt wird ein Flüchtlinge Ministrant, wie werden wir den denn noch los?" Das ist einfach nicht kongruent. Ich glaube auch, dass viele Menschen enttäuscht sind von der SPD und auch viele ehemalige Grünen-Wähler sind enttäuscht von den Grünen, weil da, wo die Grünen die Landesregierung stellen, da positioniert sich ein Herr Kretschmann für sichere Herkunftsländer. Was ich erlebe und was mir schon Angst macht, ist dass die aktiven Helferinnen und Helfer momentan sagen, sie wissen nicht, wen sie im September eigentlich noch wählen sollen. Sehr viele sagen: Ich fühle mich von allen Parteien zurückgelassen damit, ich fühle mich in meinen sozialen Überzeugungen und Werten zurückgelassen. Es ist für mich auch keine echte Alternative, die Linke zu wählen. Das hat irgendwie auch nicht Hand und Fuß in vielen anderen Bereichen, die mir wichtig sind. Viele von denen stehen da und sagen: Wen soll ich denn wählen? Und wenn diese Leute, die aktiv sind für Flüchtlinge, nicht zur Wahl gehen, weil sie nicht wissen, wen sie wählen sollen, dann haben wir definitiv eine starke AfD und einen starken rechten Flügel der CDU und CSU im Bundestag. Und das macht mir tatsächlich Angst. Ich glaube, dass ein solches Wahlergebnis viele Integrationserfolge wieder zurückentwickeln würde.

DW: Würde sich die Meinung der Gesellschaft ändern, glauben Sie, wenn es bei uns zum Terroranschlag käme?

Ja, das glaub ich schon. Was wir erleben ist ja, dass das Thema Islam ganz stark ein Diskussionsthema in unserer Gesellschaft geworden ist, das auf viel Unwissen trifft bei der Bevölkerung. Das ist schon etwas, was manchen Leuten dann Angst macht: Unwissen macht Angst. Ich glaube, es ist immer noch ein Unterschied, ob man jemanden kennt, der Muslim ist oder Muslima oder Kontakt hat. Wie generell religiöses Leben behandelt wird, dort wo man lebt. Ich hab den Eindruck, München ist auch einer der religiös lebendigsten und tolerantesten Städten. Es gibt hier schon ein recht offenes religiöses Leben und auch sehr viel interreligiösen Dialog. Ich glaub, da wo es das nicht gibt, wo das eher eine Seltenheit ist, dass man jemanden kennenlernt, der Muslim ist, dass das eine Besonderheit ist, dass man eine katholische Nonne im Gewand sieht oder Menschen mit Kippa, dass da das Thema Islam und die muslimische Gemeinde, die ja doch eher ihrem Glauben sehr viel stärker verbunden ist und ihn auch sehr viel offener lebt als es die Christen hierzulande tun, dass das Angst macht. Ich glaube, wenn man einen islamistischen Anschlag hätte, dass man dann sehr schnell wieder bei Pauschalierungen neigen würde, dass dann eine sehr zerstrittene muslimische Verbändelandschaft auch nicht gerade zuträglich sein wird, das öffentlich zu schlichten und dass dann schon nochmal die Stimmung kippen könnte.

München: Endstation einer langen Flucht

DW: Ich kann mir vorstellen, dass Ihr Engagement nicht nur auf Begeisterung stößt. Wie gehen Sie mit Kritik um?

Mit Kritik kann ich ganz gut umgehen. Das schöne an Demokratie ist, dass man sich nicht einer Meinung sein soll, sondern dass man miteinander diskutieren soll, um zu gucken, wie man mit vielen Meinungen das Beste für alle findet- etwas, was für jemanden wie mich in Ordnung ist, weil ich schon lange dabei bin. Was aber für Neue schwierig ist, dass Demokratie auch ein sehr langsamer Prozess ist und viel Geduld braucht. Auch ein Papierland wie Deutschland braucht doppelt so viel Geduld und Sitzfleisch. Aber ja - es gibt auch bei uns das Problem Anfeindungen von der rechtsradikalen Seite. Ich hab da für mich einen guten Weg gefunden mit umzugehen, weil das schon mal im Bereich der Schülervertretung kannte, dass ich Hassmails bekommen habe von Rechtsradikalen oder so. Für mich hat die Diskussion um die Kölner Silvesternacht einmal das Fass zum Überlaufen gebracht, weil so getan wurde als seien deutsche Männer die heilige Kühe unter der Weltgemeinde. Ich hab dann tatsächlich mal in einem regionalen Blog hier in München ein paar Hassmails, die ich bekomme, veröffentlicht, weil die gerade, wenn man eine Frau ist, auch unglaublich sexistisch sind und sehr übergriffig. Aber es hat aus meiner Sicht trotzdem einen positiven Effekt: nämlich viele Menschen, die dachten, das gibt es gar nicht mehr bei uns, erfahren jetzt zum ersten Mal, was für viele Menschen mit Migrationshintergrund Alltag in unserem Land immer noch ist, wo man überall plötzlich eine kleine Anfeindung bekommen kann. Viele haben jetzt gelernt, es ist nicht der Ausnahmefall und für eine tolerante Gesellschaft, die Freiheit, Vielfalt und Demokratie schätzt, muss man immer kämpfen. Man kann sich da nicht zurücklehnen.