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"Die Abhängigkeit der russischen Gerichte ist enorm hoch"

29. Mai 2008

Präsident Dmitrij Medwedjew will die Unabhängigkeit der Justiz in Russland stärken. Im Interview mit der DW nimmt Igor Trunow, Vize-Präsident des Russischen Anwaltsverbandes, Stellung zu diesen Plänen.

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Präzedenzfall ChodorkowskijBild: AP

DW-Russisch: Herr Trunow, inwieweit ist das russische Gerichtswesen von der Verwaltung und der Exekutive abhängig?

Igor Trunow: Die Abhängigkeit ist enorm. Zuallererst wird das Gerichtswesen von der Regionalverwaltung finanziert. Früher hatte die Moskauer Regierung Geld in ihrem Budget, um die Richter zu bezahlen – was durchaus gesetzeswidrig war. Nun offenbart sich die Abhängigkeit der Gerichte dadurch, dass die Regionalverwaltung die Kosten für den Aufbau und die Renovierung der Gerichtsgebäude übernimmt. Der Neubau des Gebäudes des Moskauer Stadtgerichts, den die Moskauer Regierung finanzierte, ist eine schwerwiegende Verletzung der Verfassung.

Das nächste Mittel, um Richter zu manipulieren, sind Dienstwohnungen oder Dienstwagen, die Richter und ihre Verwandten von den Behörden bekommen. Eine Wohnung kostet in Russland ein Vermögen. Dafür muss man sein ganzes Leben arbeiten. Das Verfahren zur Ernennung der Richter ist ein weiteres Mittel, um diese in Abhängigkeit zu bringen. Und zwar sind die Richter von den Beamten stark abhängig, die dafür zuständig sind, einen Richter zu ernennen oder abzulehnen.

Werden die Erklärungen von Dmitrij Medwedjew die Gerichtspraxis ändern?

Der neue Präsident muss genau wissen, wie er das Justizwesen reformieren will. Wenn er unabhängige Gerichte will, muss er damit rechnen, dass die Richter überraschende Entscheidungen treffen werden. Das Dilemma, in dem die Regierung steckt, ist Folgendes: Entweder sie kontrolliert das Justizwesen und die Rechtsprechung nach wie vor oder sie macht das Gerichtswesen unabhängig. Dann muss sie bereit sein, unerwartete Beschlüsse zu akzeptieren. Bisher sind die Erklärungen von Dmitrij Medwedew nur Worte.

Was sollte der russische Präsident tun, wenn er das Justizwesen wirklich reformieren und verbessern will?

Zuerst muss er Änderungsanträge zur Gesetzgebung vornehmen und die Abhängigkeit der Gerichte von der Legislative abschaffen. Dann dürften keine Disziplinarverfahren mehr gegen Richter durchgeführt werden, damit die Gerichtsleitungen keinen Einfluss auf die Arbeit der Richter ausüben können.

Die Ernennung der Richter ist noch ein ganz wichtiger Punkt. In Russland darf kein Rechtsanwalt die Rolle eines Richters übernehmen, und kein Richter, der in Rente geht, darf als Rechtsanwalt arbeiten. Das ist sehr schade, denn jeder Richter ist ein qualifizierter Jurist und hat eine kolossale Erfahrung. Nachdem er seinen Abschied genommen hat, könnte er diese Erfahrung zum Schutz der Menschenrechte einsetzten. Das russische Gerichtswesen wird allein von den Organen der Anklagen, also von Staatsanwälten, Polizisten und Protokollführern geprägt.

Darf man über eine Justizreform sprechen, ohne dass der Fall Chodorkowskij neu aufgerollt wird?

Theoretisch gesehen, nein. Aber es gibt die Möglichkeit, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte heranzuziehen. Diesen Urteilen zufolge muss das Oberste Gericht der Russischen Föderation seinen Rechtsspruch neu überprüfen.

Das Gespräch führte Wladimir Sergejew