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Deutschlands arme Kinder

Hendrik Heinze26. September 2012

Arme Kinder? Im reichen Deutschland? Tatsächlich: Erschreckend viele Kinder zwischen Nordsee und Alpen leben in Not. Eine neue Studie belegt nun, wie sehr die Armut ihrer Entwicklung schadet.

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Kinder wühlen in Berlin-Kreuzberg in einer Mülltonne (Foto: dpa)
Bild: picture alliance/dpa

Deutschland: Ein Land, dessen Einwohner zusammen unfassbare zehn Billionen Euro besitzen. Ein Land, dessen Bruttoinlandsprodukt fast doppelt so hoch ist wie das von ganz Afrika. Ein Land also, in dem Milch und Honig fließen. Aber auch: Ein Land, in dem ehrenamtliche Helfer Butterbrote schmieren für arme Kinder, denen sonst der Magen knurrt.

"Natürlich ist es bitter, wenn Kinder hungrig zur Schule kommen oder im Winter Sandalen tragen, weil sie keine festen Schuhe haben", sagt Hartmut Szymiczek von der "Gelsenkirchener Tafel". Dieser Verein versorgt arme Kinder kostenlos mit Lebensmitteln und Kleidung, so wie viele andere "Tafel"-Vereine in ganz Deutschland auch. Die Vereine sind für diese Arbeit auf Spenden angewiesen: Geld-, Zeit- und Kleiderspenden von freiwilligen Helfern, Lebensmittelspenden von den Geschäften der Region. In Gelsenkirchen fließen Milch und Honig nur, wenn der Supermarkt sie spendet. "Das, was wir anbieten können, ist im doppelten Sinne nur ein Zubrot", sagt Szymiczek. "Wir brauchen eine staatliche Grundversorgung, die all diese Probleme aufgreift."

Ein Kind nimmt sich einen Becher Joghurt in einer Einrichtung der Wuppertaler "Tafel". (Foto: Christof Koepsel/Getty Images)
Almosen für Arme: Die "Tafeln" verteilen Essen an BedürftigeBild: Getty Images

Deutschland, so reich und doch so arm

Szymiczek hat dieses Interview einer Zeitung gegeben, dem Kölner Stadtanzeiger. Jetzt will er mit niemandem mehr sprechen, auch nicht mit der DW. In Gelsenkirchen lebt jedes dritte Kind von Sozialhilfe. Viele davon kommen zur Tafel. Aber Szymiczek und seine vielen Unterstützer wollen nicht, dass Gelsenkirchen dasteht wie das Armenhaus der Republik, deswegen schweigen sie nun. Kinderarmut in Deutschland, das ist ein großes und beschämendes Problem.

Eine neue Untersuchung bestätigt nun, was Hartmut Szymiczek schon lange weiß: "Armut, das hat die in der Bundesrepublik bisher einzigartige Langzeitstudie leider bewiesen, ist der größte Risikofaktor für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen“, fasst Studienleiterin Gerda Holz zusammen. Die Wissenschaftlerin vom Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS) erforscht seit 15 Jahren, was arm sein eigentlich heißt im reichen Deutschland. Für die Studie galten Familien als arm, die weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens zur Verfügung hatten. Forscher schätzen das auf netto 2700 Euro pro Haushalt. "Das heißt", erklärt Gerda Holz, "der Bezugspunkt für Armut, die wir hier in Deutschland diskutieren, ist der Reichtum oder Wohlstand dieses Landes."

Gerda Holz, Autorin der AWO-Studie zur Kinderarmut in Deutschland (Foto: ISS)
"Armut heißt, dass ein Kind kein Fahrrad hat": Forscherin Gerda HolzBild: Holz

Deutschlands arme Kinder: Kein Kinderzimmer, kein Fahrrad, keine Ferien

Und dann holt sie aus: "Konkret heißt Armut bei uns zum Beispiel tatsächlich, dass die Kinder in geringerem Maße mit Essen versorgt sind. Dass sie kein Kinderzimmer haben. Dass sie darauf verzichten müssen, an Ferienfreizeiten teilzunehmen. Dass sie kein Fahrrad haben. Es bedeutet aber genau so, dass sie kein Geschenk mitbringen können zum Kindergeburtstag, obwohl das üblich ist."

Jeder vierte Studienteilnehmer lebte bei der letzten Befragung im Jahr 2010 in ärmlichen Verhältnissen. Hauptursache dafür, so sagt es Holz, sind Eltern ohne Arbeit - und damit fehlendes Familieneinkommen. Dafür wiederum gibt es viele Gründe: Eltern, die schlecht ausgebildet sind oder schon zu lange arbeitslos, die krank sind oder behindert. Und natürlich - oft alleinerziehende - Eltern, die ihre Kinder betreuen müssen und deswegen nicht arbeiten können.

Wer arm ist, der wird es lange bleiben?

Begonnen hatte Holz ihre Studie Ende der 90er Jahre im Auftrag der Hilfsorganisation Arbeiterwohlfahrt (AWO). Fast 1000 Kinder im Alter von sechs Jahren bekamen damals Besuch von den ISS-Forscherinnen. Dieselben Kinder wurden immer wieder besucht und befragt. Von denen, die 1999 arm waren, lebt immer noch jedes zweite in Armut. Die Folge, so Holz, sind oft Verhaltsauffälligkeiten. Bei jedem zweiten Jugendlichen führt die Armut zu Problemen beim Lernen - etwa, weil in der Schule der Magen knurrt. Oder, weil die Kinder sich um kleine Geschwister kümmern oder in Nebenjobs Geld verdienen müssen. "Armut führt zu mehr Belastung und schlechteren Chancen", sagt Holz.

Andere Studien bestätigen die Erkenntnisse: Laut UN-Kinderhilfswerk UNICEF ist die Kinderarmut in Deutschland höher als in vielen anderen Industrieländern. Rund 1,2 Millionen Kindern fehlen demnach die einfachsten Dinge, täglich eine warme Mahlzeit etwa, oder ein zweites Paar Schuhe. Der Deutsche Kinderschutzbund sieht jedes fünfte Kind in finanzieller Armut - insgesamt mehr als 2,5 Millionen Kinder.

Ein Kind schaukelt vor einem Hochhaus in Meschenich bei Köln (Foto: Rolf Vennenbernd/dpa)
Kein Geld für Ferien? Arme Kinder sind häufig sozial ausgegrenztBild: picture-alliance/dpa

Zu arm für warme Mahlzeiten

Für AWO und ISS folgt daraus, dass der Staat einschreiten muss: Indem er den Eltern zu Arbeit verhilft. Und indem er dafür sorgt, dass es genügend bezahlbare Betreuungsangebote gibt, vom Kindergarten über die Hausaufgabenhilfe bis zur Ganztagsschule. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass sich vor allem jene Kinder aus der Armut befreien konnten, die solche staatlichen Hilfsangebote nutzten. "Starke Institutionen können Kindern das bieten, was sie zu Hause eventuell nicht bekommen können", erklärt AWO-Bundeschef Wolfgang Stadler. Und selbst die Bundesregierung, die ja die aktuelle Politik zu verantworten hat, schreibt in ihrem Kinder- und Jugendbericht: "Deutschland hat mit Blick auf sein öffentliches Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsangebot einen unübersehbaren Nachholbedarf."