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Politik

"Deutschland soll Jesiden prioritär aufnehmen"

Maryam Ansary
12. Dezember 2016

Die Schreckensherrschaft des IS im Nord-Irak begann 2014 mit der Ermordung und Versklavung Tausender Jesiden. Holger Geisler, Sprecher der deutschen Exil-Gemeinde, kritisiert die Behandlung der Jesiden in Griechenland.

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Jesidische Frauen in Flüchtlingslager von Petra (Foto: Zentralrat der Jesiden in Deutschland/H. Geisler)
Bild: Zentralrat der Jesiden in Deutschland/H. Geisler

Deutsche Welle: Kürzlich waren Sie in Griechenland und haben sich von der Lage der jesidischen Flüchtlinge in den Lagern ein Bild machen können.

Geisler: Zuletzt haben wir Camp Petra im Olymp-Gebirge besucht. Nachts fiel die Temperatur auf minus 3,5 Grad Celsius. Die Leute wohnen in unbeheizten Zelten und ohne Strom. Manche konnten seit über zwei Jahren nicht warm duschen, weil es kein warmes Wasser gibt. Wenn Sie keine Möglichkeit haben, Ihre Wäsche zu waschen und richtig zu trocknen, dann können Sie sich vorstellen, dass dadurch Krankheiten begünstigt werden. Über 60 Prozent der Lagerbewohner waren krank, als wir das Lager besuchten, die Vorsorge- und Behandlungsmöglichkeiten sind schlecht.

Wer ist dafür zuständig und warum ist das so?

In erster Linie ist die griechische Regierung für die Lager zuständig, und in allen Flüchtlingslagern in Griechenland hat das Militär die Aufsicht. Es gibt ein spezielles Migrationsministerium, das sich um die Betreuung kümmern soll. Auch viele NGOs versuchen sich einzubringen. In Petra hatte man immer das Gefühl, dass es keine richtige Hierarchie gibt, dass niemand weiß, wer wofür zuständig ist.

Was können die NGOs dort bewirken? Sind sie wirklich in der Lage, etwas zu ändern?

Die bemühen sich, Dinge zu verbessern. Eine NGO hat zum Beispiel Solarpanelen aufgebaut, worüber man sich gefreut hat, weil man dachte, jetzt gibt es warmes Wasser. Aber das war eher kontraproduktiv, denn wenn 1500 Menschen in einem Camp leben und 20 können warm duschen und 1480 nicht, dann führt das eher zu Spannungen als zu einer Verbesserung. Und wenn 1500 Menschen mit 30 Chemietoiletten und zwölf Duschen auskommen sollen, dann sind das einfach Umstände, die man sich nicht erklären kann oder wo man sich fragt: Warum wird es nicht besser? Die NGOs bemühen sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Die griechische Regierung hat allerdings jetzt von der EU gefordert, keine Finanzmittel mehr an NGOs zu geben, sondern sie möchte dieses Geld gern selber haben, um es einzusetzen. Ob das dann allerdings zielführend ist, wage ich zu bezweifeln.

Zelte im Flüchtlingslager von Petra (Foto: Zentralrat der Jesiden in Deutschland/H. Geisler)
Im Flüchtlingslager Petra sind die Jesiden sicher vor Übergriffen, aber ansonsten ist die Lage trostlosBild: Zentralrat der Jesiden in Deutschland/H. Geisler

Wie ist die Lage der jesidischen Flüchtlinge in Griechenland?

Es gibt in Griechenland inzwischen zwei rein jesidische Camps. Das liegt daran, dass sie vor islamistischen Übergriffen in anderen Lagern innerhalb Griechenlands fliehen mussten. Unter anderem im Lager Katsikas, wo die Jesiden ihres Lebens nicht mehr sicher waren. Sie haben teilweise einige Tage auf offenem Feld oder auf offener Straße verbracht, bevor sie dann in andere Lager gebracht worden sind. Petra war von Anfang an ein rein jesidisches Camp, viele Jesiden sind dann aus anderen Lagern dorthin gekommen. Ausgelegt war es ursprünglich für knapp 800 Personen, aber täglich kamen neue Personen an, die aufgenommen werden sollten. In der Spitze hatten wir dort über 1600 Menschen.

Die Leute haben immer gewusst, dass sie dort schlecht untergebracht sein würden, aber sie haben sich gesagt: Lieber schlecht untergebracht und frei als sich auch in einem Lager in Griechenland nicht frei bewegen zu können. Das hat uns sehr geschmerzt. Diese Leute kamen zu uns und haben gesagt: Ihr habt uns immer von Europa erzählt, dass es hier Meinungs- und Glaubensfreiheit gibt, und nicht einmal hier haben wir das. Und wenn Ihnen ein siebenjähriges Mädchen gegenüber steht und Sie fragt, warum sie hier eigentlich mit Steinen beworfen und als Ungläubige bezeichnet wird, dann fällt eine Antwort darauf schwer.

Wenn Sie wie viele muslimische Flüchtlinge in dem Glauben aufwachsen, dass Ihr Glaube der bessere ist, dann ist es wahrscheinlich sehr schwer zu akzeptieren, dass das Leben in Europa anders funktioniert. Ich habe ähnliches in Katsikas, das ich auf einer meiner ersten Reisen besucht habe, erlebt: wie Christen dort malträtiert wurden, wie ihnen Kreuze abgerissen und zertreten wurden, wie sie in der Lebensmittelverteilung immer als letzte dran waren.

Nadia Murad, Trägerin des  Sacharow-Preises des Europaparlaments (Foto: picture alliance/dpa/V. Simanek)
Der Sacharow-Preis für die Jesidinnen Nadia Murad (Bild) und Lamia Hadschi Baschar hat das Leid dieser Volksgruppe unter dem IS erneut ins Rampenlicht gerücktBild: picture alliance/dpa/V. Simanek

Was sollten Deutschland und die EU tun?

Deutschland hat sich aufgrund eines Abkommens innerhalb der EU verpflichtet, über 17.000 Flüchtlinge aus Griechenland aufzunehmen. In Griechenland sind jetzt noch 2500 Jesiden, viele andere sind entweder frustriert in den Irak zurückgekehrt und haben mir erzählt, dass sie besser in der Heimat sterben können als in Europa. Oder sie haben versucht, durch die geschlossene Balkanroute zu kommen und befinden sich jetzt oftmals in Haft in Ländern wie Bulgarien, Ungarn oder Italien. Wenn wir davon ausgehen, dass wir inzwischen 150.000 Jesiden und eine gut funktionierende Gemeinschaft in Deutschland haben, dann wäre es ein Leichtes, diese 2500 Menschen hier aufzunehmen, weil uns hier die Integration einfach gut gelingen würde.

Anderes Beispiel: Portugal war bereit, 400 Jesiden aus Griechenland aufzunehmen, der Ministerpräsident ist persönlich angereist und hat mit der griechischen Regierung verhandelt. Und ihm wurde gesagt: Es geht nicht, es wäre eine Diskriminierung gegenüber anderen Glaubensgemeinschaften.

Wenn ich dann aber auf der anderen Seite sehe, dass über 90 Prozent der Jesiden auf der Relocation-Liste ab Platz 11.000 auftauchen, dann ist das für mich eine Diskriminierung. (Hierzu teilt das Bundesinnenministerium auf Anfrage mit: Die von Ihnen zitierte Liste … ist uns nicht bekannt. Zielgruppe für Relocation sind Asylsuchende, die eine Staatsangehörigkeit haben bzw. aus einem Herkunftsland kommen mit einer EU-weiten durchschnittlichen Anerkennungsquote von mindestens 75 Prozent. Das Vorschlagsrecht obliegt alleine den griechischen Behörden. Die Religionszugehörigkeit ist kein Kriterium für die Umverteilungsentscheidung. – Red.)

Und die wirkliche Frage bleibt ja: Die UN und Teile der EU sprechen offiziell von einem Genozid an den Jesiden durch den IS. Aber wenn wir von Genozid sprechen, dann muss das auch irgendwelche Folgen haben. Und die Folge wäre für mich, dass solche Menschen auf eine Prioritätenliste kommen. All diese Menschen sind traumatisiert. Ich habe in Griechenland Frauen und Männer erlebt, die in IS-Gefangenschaft waren. Ich habe dort Blinde und geistig behinderte Menschen gesehen und völlig auseinandergerissene Familien.

Kein einziger davon steht auf einer Prioritätenliste, und da frage ich mich wirklich, warum wir dann über einen Genozid sprechen. Dann sollte man sagen: Es sind Flüchtlinge wie alle anderen auch. Dann müssen wir da nicht drüber diskutieren. Aber wenn wir sagen, es sind Opfer eines Genozids, dann erwarte ich auch eine entsprechende Behandlung.