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Armes Deutschland

17. Oktober 2006

Die Debatte über eine "neue Unterschicht" in Deutschland geht weiter. In der großen Koalition hat die Diskussion einen Streit über die Ursachen der wachsenden Armut ausgelöst.

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Zwei Arbeitslose auf einem Gehsteig in Berlin-Neukölln
Arbeitslose in Berlin-NeuköllnBild: picture-alliance/dpa
Franz Müntefering
Franz Müntefering (Archivfoto)Bild: AP

Die Formulierung sorgte in der SPD-Spitze umgehend für Stirnrunzeln. "Es gibt viel zu viele Menschen in Deutschland, die keinerlei Hoffnung mehr haben, den Aufstieg zu schaffen. Sie finden sich mit ihrer Situation ab", beklagte der SPD-Chef Kurt Beck in einem Interview. "Manche nennen das Unterschichten-Problem." Damit trat er eine Debatte los, die neue Nahrung erhielt, als am Wochenende eine Studie bekannt wurde, die die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung in Auftrag gegeben hatte: Demnach gehören 8 Prozent der Bevölkerung diesem "abgehängten Prekariat" an; im Westen sind es 4, im Osten gar 20 Prozent.

"Jahrzehntelange Sozialhilfekarrieren"

"Der Begriff Unterschicht ist ein Begriff von lebensfremden Soziologen", verkündete der frühere SPD-Chef und jetzige Vizekanzler Franz Müntefering am Montag (16.10.) per Interview. "Es gibt keine Ober- und Unterschichten hier, sondern es ist eine Gesellschaft und wir sind gut beraten, wenn wir die nicht auseinander fallen lassen."

Doch so einfach ließ sich die Debatte nicht beenden - auch nicht mit dem Aufruf der SPD-Führung, mit der Diskussion aufzuhören und lieber von "neuer Armut" oder der "neuen sozialen Frage" zu sprechen.

Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse, auch SPD, widersprach Müntefering umgehend. "Wir leben eben in einer Klassengesellschaft", sagte er. Soziale Gegensätze hätten sich über Generationen hinweg verfestigt. Der Sprecher der "Netzwerker" von jüngeren Abgeordneten in der SPD, Christian Lange, sagte: "Jeder von uns kennt Straßenzüge, in denen wir seit Jahrzehnten Sozialhilfekarrieren haben."

Streit in der Koalition

Mehrere SPD-Politiker, unter ihnen der SPD-Linke Ottmar Schreiner, wiesen die Verantwortung für den Anstieg der Armut der Hartz-Reform und damit der früheren rot-grünen Bundesregierung zu. CDU-Politiker griffen dies auf und lösten so einen Streit in der großen Koalition aus. Nach den Worten von CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla ist in den sieben Jahren von Rot-Grün der "Anteil der Armen" gestiegen.

Müntefering hielt dagegen, Rot-Grün habe viele Menschen aus der Sozialhilfe geholt. Sie hätten damit eine Chance auf dem Arbeitsmarkt erhalten. Der Vizekanzler forderte von der Arbeitsverwaltung größere Anstrengungen. Zugleich müssten aber auch Erwerbslose stärker bereit sein, angebotene Stellen anzunehmen. Der SPD-Arbeitsmarktexperte Klaus Brandner wandte sich strikt gegen die von der Union ins Gespräch gebrachte Forderung, das Arbeitslosengeld um bis zu 30 Prozent zu kürzen.

"Armee der dauerhaft Überflüssigen"

Unter Wissenschaftlern löste die Debatte über Armut in Deutschland unterschiedliche Reaktionen aus. Die Bezeichnung Unterschicht sei "ein korrekter Begriff", erklärte der Kölner Soziologe Jürgen Friedrichs in der Erfurter Tageszeitung "Thüringer Allgemeine". Die vertikale Ordnung von Personen- und Haushaltsgruppen sei ein klassisches Verfahren in der internationalen Sozialforschung. Zugleich warf Friedrichs der Politik eine Flucht vor der Wirklichkeit vor. "Ob wir das nun Unterschicht nennen oder nicht: Es ist jedenfalls eine Gruppe von Menschen in außerordentlich schwierigen Lebensbedingungen, für die wir unbedingt etwas tun müssen", betonte der Wissenschaftler.

Der Soziologe Reinhold Sackmann von der Martin-Luther-Universität Halle warnte vor einer Dramatisierung der Diskussion. Die These von der Unterklasse existiere seit langem, stellte Sackmann in der "Mitteldeutschen Zeitung" aus Halle fest. Allerdings gebe es für Deutschland kein gesichertes Zahlenmaterial. Obwohl in den vergangenen zehn Jahren die Ungleichheit leicht gestiegen sei, liege sie unter dem internationalen Durchschnitt.

Der hannoversche Sozialphilosoph Oskar Negt Deutschland warnte indessen vor einer Klassengesellschaft. "Wer einmal in der abgekoppelten Gruppierung, Klasse drin ist, kommt da ganz schwer wieder heraus", sagte er in einem Interview der in Bielefeld erscheinenden "Neuen Westfälischen". Negt beklagte "eine wachsende Armee der dauerhaft Überflüssigen". Diese Menschen würden "einfach nicht mehr gebraucht für diese Form der gesellschaftlichen Prozesse". (stu)