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"Deutschland braucht eine fette Dosis Neoliberalimus"

Das Interview führte Ranty Islam9. September 2005

Was denken ausländische Journalisten über Deutschland und die Wahl? Fragen an den Berlin-Korrespondenten der britischen Tageszeitung "The Guardian" Luke Harding.

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Luke HardingBild: jungeblodt.com

DW-WORLD: Herr Harding, wie geht es Deutschland aus Ihrer Sicht?

Luke Harding: Deutschland geht es besser als das Land von sich glaubt. Die Stimmung ist so unglaublich depressiv - Man könnte fast meinen, die Deutschen glaubten, sie leben in Bangladesch. Tatsächlich ist Deutschland aber nach wie vor ein sehr wohlhabendes Land mit einer großartigen Infrastruktur. Manchmal möchte ich meinen deutschen Freunden einfach zurufen: "Hört endlich auf mit dem Jammern!"

Andrerseits stimmt es natürlich, dass es in Deutschland strukturelle Probleme gibt. Die hohe Arbeitslosigkeit ist dabei eines der größten. Das Land hat nie eine Zeit des "Thatcherismus" durchlebt - dies hat den Briten seinerzeit bei der Umstrukturierung ihres Arbeitsmarktes geholfen. Ein wirkliches Problem ist dieser Kulturpessimismus und ich verstehe einfach nicht, warum. Es scheint, als wären die Deutschen nur glücklich, wenn sie unglücklich sind. Es muss etwas mit der deutschen Psyche zu tun haben.

Was muss passieren, um den Aufschwung in Deutschland zu beschleunigen?

Was Deutschland braucht, ist eine große, fette Dosis Neoliberalismus. Ich denke, dass eine Neuorientierung entlang der anglo-amerikanischen Job- und Arbeitskultur vonnöten ist. Ich will damit keiner "Hire & Fire" Mentalität das Wort reden, aber mehr Flexibilität ist dringend notwendig und, ja, die Leute müssen begreifen, dass sie im Laufe ihres Arbeitslebens fünf oder sechs Mal den Job wechseln müssen.

Schröder oder Merkel? Wer ist Ihr persönlicher Favorit?

Das ist schwierig. Merkels Wirtschaftsreformen scheinen mir richtig. Andererseits ist Merkel eine unglaublich langweilige Figur. Und einen Wahlkampf mit wenig mehr als dem Versprechen einer Mehrwertsteuererhöhung zu führen, ist ebenfalls nicht sehr hilfreich. Ich denke, dass Deutschland unter Merkel ein ziemlich trister Ort sein wird. Schröder auf der anderen Seite ist ein sehr bunter Charakter. Er ist ein Typ mit dem man sich hinsetzt und ein Bier trinkt. Journalisten mögen ihn. Aber in fast allen anderen Bereichen hat er versagt. Im Gegensatz zu Tony Blair in Großbritannien hat er es nicht geschafft, seine Partei von der Richtigkeit seiner Politik zu überzeugen. Also, ich kann mich für keine der beiden entscheiden, aber was ich denke, spielt sowieso keine Rolle, weil Deutschland am Ende Merkel bekommen wird.

Was mögen Sie an Deutschland?

Ich kenne Deutschland schon eine ganze Weile. Ich bin zum ersten Mal mit zehn Jahren nach Deutschland gekommen und habe in den darauf folgenden Jahren immer wieder den Sommer bei einer wunderbaren Gastfamilie in Köln verbracht. Was ich an dem Land mag, ist, dass es funktioniert. Und wenn es mich an andere Orte verschlägt, wie zuletzt Indien, dann kommen meine Siemens Waschmaschine und der Miele Staubsauger mit. Das öffentliche Verkehrswesen ist großartig und die Bevölkerung ist sehr freundlich. Es ist ein Land, in dem man Kinder großziehen möchte - so wie ich es tue. Ich habe zwei kleine Kinder. Sie besuchen zwar eine englische Schule, lernen aber auch Deutsch.

Und was gefällt Ihnen weniger an Deutschland?

Die ganzen Regeln! Alles scheint entweder "nicht gestattet", "nicht erlaubt" oder einfach "verboten" zu sein. Das ist schon ein bisschen frustrierend - besonders nachdem ich gerade in Indien war. Ach, ja, und in Berlin, wo ich wohne, da sind diese alten Damen, die meine Kinder ausschimpfen, obwohl sie sich nun wirklich ziemlich vernünftig aufführen. Da fragt man sich, ob in Deutschland nur die Alten das Sagen haben eine Gerontokratie sozusagen. Also, meine Botschaft heißt ganz klar: "Weniger Geld und Macht den Rentnern!"

Luke Harding berichtet seit September 2003 aus Berlin für den Guardian. Zuvor war er mehrere Jahre Korrespondent für Südasien. Außerdem war Luke als Kriegsreporter unterwegs. Mehrfach war der 37-Jährige für den Guardian in Afghanistan und im Irak. Erstmals kam Luke mit einem Schüleraustausch nach Deutschland. Er lebt mit seiner Frau Phebe und seinen zwei Kindern Tilly (8) und Ruskin (5) in Berlin.