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Deutscher Kurswechsel in Europa

Bernd Riegert1. Dezember 2003

Die Regierung in Berlin verbreitet auf allen Konferenzen der EU den Eindruck, als wäre sie nur von der großen europäischen Vision getrieben. Das aber stimmt so nicht, meint Bernd Riegert in seinem Kommentar.

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Dass Berlin durchaus zu knallharter nationalstaatlicher Interessenpolitik fähig ist und diese zunehmend gegenüber Brüssel durchsetzt, haben jüngste Ereignisse wie der Streit um den Stabilitätspakt sehr deutlich gemacht. Die harte Gangart, die die Bundesregierung beim Ringen um den Stabilitätspakt gegenüber der EU-Kommission an den Tag gelegt hat, will sie auch in vielen anderen Bereichen an den Tag legen.

Aus Sicht der Berliner Strategen war die ablaufende Woche eine Woche der Niederlagen für die Kommissare in Brüssel. Beim Stabilitätspakt und bei der Übernahmerichtlinie für grenzüberschreitende Firmenfusionen wurde die Kommission von einer Koalition der Willigen unter Führung von Deutschland und Frankreich niedergestimmt. Etwas länger zurück liegt die Niederlage bei der Chemikalienrichtlinie, die der aus deutscher Regierungssicht übereifrigen Umweltkommissarin Margot Wallström beigebracht wurde. Neue Konflikte sind am Horizont bereits erkennbar: Die komplizierte Verbraucherschutz-Richtlinie des Binnenmarkt-Kommissar Frits Bolkestein und die Regelung des Emissionsrechte-Handels.

Kanzler donnert

Das Kanzleramt in Berlin hat die Devise ausgegeben, die EU-Kommission, die sich unter Führung von Romani Prodi als eine Art Regierung von Europa fühlt, in ihre Schranken zu weisen. Der Kanzler donnert, die Kommission sei nicht sakrosankt, ihre Vorschläge nicht unfehlbar. Zusätzliches Geld aus Deutschland für einen EU-Haushalt, den die zuständige Kommissarin Michaele Schreyer wegen der Erweiterung ab 2007 erhöhen will, ist völlig undenkbar. In Brüssel will sich die EU-Kommission, deren Mandat Ende 2004 ausläuft, gegen das deutsche Sperrfeuer zur Wehr setzen.

Vielleicht ist so zu erklären, dass Währungskommissar Pedro Solbes alles auf eine Karte setzte, indem er versuchte, die Deutschen über das Regelwerk des Stabilitäts- und Wachstumspaktes zu packen. Das misslang. Trotz des verheerenden Presseechos auf das Aussetzen des Stabilitätspaktes beschwichtigt die Bundesregierung, es handele sich um einen ganz normalen Vorgang. Von europäischer Krise wollen die Regierenden in Berlin nichts wissen. Vorsichtshalber hat Finanzminister Hans Eichel aber ein eigenes Stabilitätsprogramm mit dem Versprechen zur Haushaltskonsolidierung nachgeschoben, um die Gemüter zu beruhigen.

Machtkampf der Kommissare

Hinter dem Machtkampf mit den Brüsseler Kommissaren, die von den Mitgliedsregierungen als Hüter der Europäischen Verträge eingesetzt wurden, steckt ein Kurswechsel in der deutschen Europapolitik. Bundeskanzler Gerhard Schröder nimmt für sich in Anspruch, deutsche Interessen auf europäischer Ebene mit mehr Nachdruck zu vertreten. Daran müssen sich die Kommission und auch die Vertreter vieler kleinerer EU-Staaten noch gewöhnen. Während der Ära des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl in den Neunziger Jahren sei Deutschland um Ausgleich, Vermittlung und Partnerschaft bemüht gewesen, schwärmt zum Beispiel der christdemokratische Regierungschef von Luxemburg, Jean-Claude Juncker.

Doch diese Zeiten scheinen vorbei. Berlin will, im steten Bewusstsein der größte Nettozahler der Union zu sein, vor allem in den Bereich Industriepolitik, Wirtschaft, Forschung und Entwicklung seine Interessen durchsetzen. Das Europa der künftig 25 Mitglieder braucht starke Länder, die voranschreiten, die führen, so die Logik der Vordenker in der Bundesregierung. Eine zu starke EU-Kommission, mit immer neuen Gesetzesvorschlägen, für die sie im europäischen Gefüge das Monopol besitzt, stört bei diesem Anspruch. Natürlich, so versichert man im Kanzleramt, werde man immer im Sinne der europäischen Integration handeln, aber ein Ende der Bescheidenheit sei angezeigt. Gegner des deutschen Kurses in Brüssel nennen ihn einen Rückfall in nationalstaatliches Denken.

Deutsche Verfassung

Im Streit um die Verfassung hat Deutschland sich fest vorgenommen, das Abstimmungssystem in der EU so zu ändern, dass bevölkerungsreiche Staaten wie Deutschland und Frankreich mehr Einfluss bekommen. Dieses Ziel könnten die misstrauischen Kleinen blockieren, da ihre Zustimmung in der Regierungskonferenz gebraucht wird.

In dem Machtpoker wird im Frühjahr ein neues Blatt ausgeteilt. Dann geht es um Personalfragen. Die neue EU-Kommission muss benannt werden. Schon jetzt weisen deutsche EU-Beamte vorsorglich daraufhin, dass Deutschland erst einen Kommissionspräsidenten in der langen Geschichte der EU gestellt habe. Deutschland sei also mal wieder an der Reihe. Dann würde sich der Konflikt zwischen Berlin und Brüssel quasi von selbst erledigen.