1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Deutsche Bildungsforscher warnen

Kay-Alexander Scholz (mit Agenturen)13. Juni 2014

Was wird aus dem deutschen Ausbildungssystem, wenn immer mehr junge Leute studieren wollen? Das fragen die Autoren des neuen Bildungsberichts. Und sie warnen vor Fehlern bei Inklusion und Integration.

https://p.dw.com/p/1CH9z
Symbolbild Duale Ausbildung: Zwei Schweißer (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Deutschland ist auf dem Weg in die Wissensgesellschaft, zumindest was den Wandel des Bildungsverhaltens angeht. Im vergangenen Jahr haben erstmals mehr junge Menschen ein Studium an einer Fachhochschule, Hochschule oder Universität als eine Berufsausbildung begonnen. Die Autoren des neuen nationalen Bildungsberichts, der am Freitag (13.6.) in Berlin vorgestellt wurde, sprechen deshalb von "Bewegung" im System, aber auch von "Stillstand". Denn die Bewegung ist ihrer Ansicht nach noch nicht breit genug.

Ein Beispiel: 60 Prozent der jungen Türkinnen in Deutschland sind laut Bericht ohne Berufsabschluss. Seit dem ersten Bildungsbericht vor zehn Jahren habe sich "da nicht viel verändert", kritisierte Martin Baethge von der Uni Göttingen. Schuld daran seien aber nicht nur "kulturelle familiäre Prägungen", sondern auch die Vorurteile deutscher Arbeitgeber. Sie benachteiligten Bewerber mit Migrationshintergrund. Zum Teil läge dies aber auch an den schlechteren Schulabschlüssen, räumte Baethge ein. Unter den jungen Migranten haben fast 18 Prozent keinen Berufsabschluss, insgesamt sind es in Deutschland rund zehn Prozent.

"Zentral bleibt die soziale Frage", betonte denn auch Bundesbildungsministerin Johanna Wanka bei der Präsentation des Reports. Sie sieht generell aber viele "Früchte" in der Bildungspolitik, auch durch die gestiegenen staatlichen Ausgaben.

Bundesbildungsministerin Johanna Wanka mit Sylvia Löhrmann, Präsidentin der Konferenz der Kultusminister der Länder (Foto: dpa)
Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (rechts) mit Sylvia Löhrmann, Präsidentin der Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK)Bild: picture-alliance/dpa

Gerät duales System unter Druck?

Die Bildungsforscher hingegen warnten vor den möglichen Folgen der Verschiebung zwischen Berufsausbildung und Studium. Schon jetzt sei die Zahl der Ausbildungsplätze im dualen System gesunken. Es bestehe die Gefahr, dass "dieses international so gelobte System zurückfalle auf die Bereiche Handwerk und Kleinbetriebe", sagte Baethge. Erschwerend kommt seiner Meinung nach der demografische Wandel hinzu, also die sinkende Zahl von jungen Menschen. Ebenso sei man gerade erst dabei herauszufinden, wie sich die Umstellung auf Bachelor/Master-Studiengänge auf den Arbeitsmarkt auswirke. "Deshalb ist es wichtig, die Durchlässigkeit zwischen beiden Systemen zu erhöhen", forderte der Bildungsforscher.

Das sieht auch die Ministerin so. Hochschulen müssten sich für qualifizierte Facharbeiter öffnen, verlangte sie. Und in umgekehrter Richtung sollte Studienabbrechern der Weg in eine Berufsausbildung möglich sein. Wichtig hierfür sei es, erworbene Qualifikationen wechselseitig anerkennen zu können. 13 Millionen will das Bildungsministerium künftig für ein entsprechendes Umsteigerprogramm ausgeben.

Trotz Inklusion: Mehr Schüler mit Förderbedarf

Der Bildungsbericht wird von Bund und Ländern alle zwei Jahre vorgelegt und ist eine umfassende empirische Bestandsaufnahme. Der aktuelle Bericht setzt einen Schwerpunkt auf die Bildungschancen für Behinderte und die angestrebte Inklusion - dem von einer UN-Konvention verlangten gemeinsamen Unterricht von Behinderten und Nicht-Behinderten. Derzeit gibt es laut Bericht in Deutschland knapp eine halbe Million Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Das sind 6,6 Prozent aller Schüler. Rund zwei Drittel dieser Schüler besuchen derzeit eine spezielle Förderschule. Das restliche Drittel geht auf eine Regelschule, lernt also inklusiv.

Inklusion: Gemeinsames lernen von behinderten und nicht behinderten Schülern (Foto: dpa)
Schwerpunkt des diesjährigen Reports: InklusionBild: picture-alliance/dpa

Trotz anstrebter Inklusion und steigender Förderangebote würden aber insgesamt mehr Schüler auf Sonderschulen unterrichtet als vor einigen Jahren, betonte der Sprecher der Autorengruppe, Marcus Hasselborn vom Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung. Zwar nimmt der Anteil von wirklichen Lernbehinderungen ab, dafür aber gibt es laut Thomas Rauschenbach vom Deutschen Jugendinstitut mehr soziale und emotionale Verhaltensauffälligkeiten. Außerdem sei der Anteil nicht-deutscher Schüler, die auch wegen Sprachproblemen eine Förderschule besuchten, mit fast neun Prozent sehr hoch, sagte Horst Wieshaupt vom DIPF. Ein Drittel der Serben, Libanesen und Albaner besuchten deutsche Förderschulen.

Plädoyer für den Erhalt der Förderschulen

Förderschulen abschaffen zu wollen, hält Hasselborn für den falschen Weg. Die Verpflichtung zur Inklusion treffe in Deutschland auf ein historisch gewachsenes Bildungssystem und eine komplexe Rechtslage, so der Bildungsexperte. Er verwies auf Erfahrungen aus Großbritannien, wo man es inzwischen für realistisch hält, dass zwei Prozent der Schüler eine Förderschule besuchen. In Deutschland sind es derzeit noch 4,8 Prozent. Das sei zu hoch, "das wissen auch alle“.

Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz der Länder, Sylvia Löhrmann, betonte ebenfalls, sie wolle keine "Zwangsinklusion". Sie machte aber deutlich, dass sie am liebsten jedes Kind mit Lernbehinderung individuell ins normale Schulsystem eingliedern würde.

Fachkräftemangel auch hausgemacht?

Der Wirtschaft bescheinigten die Autoren eine "wenig zukunftsorientierte Ausbildungspolitik". In den Industrieberufen Metall, Technik und Elektro sowie den Gesundheits- und Pflegeberufen bestehe seit Jahren eine "beträchtliche Unterdeckung" beim Lehrstellenangebot der Unternehmen, hieß es. Erklärungsbedürftig seien auch die zu wenigen Stellen für Informatiker und Industriekaufleute, so die Bildungsforscher. Dieser Befund stehe im Gegensatz zu den öffentlichen Befürchtungen, wonach es aufgrund der demografischen Entwicklung zu wenige Auszubildende gebe.

Intensivstation der Herzchirurgie: 2013 gab es elf Prozent zu wenig Ausbildungsplätze in der Medizin (Foto: Dpa)
2013 gab es elf Prozent zu wenig Ausbildungsplätze in der MedizinBild: picture-alliance/dpa

Das dennoch immer wieder zitierte Überangebot bei den Lehrstellen beschränke sich seit Jahren auf die Bereiche Ernährungshandwerk, Köche und Hotel- und Gaststättengewerbe, kritisierten die Bildungsforscher weiter.

Ministerin Wanka führte dies primär auf "Matchingprobleme" zwischen Lehrstellen und Auszubildenden zurück. Sie räumte aber ein, dass insbesondere kleinere Betriebe in Deutschland mehr ausbilden müssten.