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Politik

"Rückkehrtrend sehr schädlich für Türkei"

Daniel Heinrich
6. April 2017

Noch vor wenigen Jahren reisten jährlich zehntausende gut ausgebildete Deutsch-Türken mit der Hoffnung auf ein besseres Leben in die Türkei aus. Türkei-Experte Faruk Sen konstatiert im DW-Interview einen Rückkehrtrend.

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Türkei Istanbul modernes Geschäftszentrum Levent
Modernes Geschäftsviertel in Istanbul: Der wirtschaftliche Aufschwung der 2000er Jahre ist sichtbar in der TürkeiBild: picture alliance/blickwinkel/imagesandstories

DW: Die Türkei galt noch vor wenigen Jahren als "gelobtes Land" für gut ausgebildete Deutsch-Türken. Inwiefern hat sich dies in der jetzigen instabilen politischen Situation geändert?

Sen: Es herrscht in der Türkei gerade generell eine sehr große Unzufriedenheit mit der allgemeinen Lebenssituation, vor allem aber mit der Regierung. Viele intellektuelle und aufgeklärte Türken sehen keinen Grund, warum es am 16. April zu einer Verfassungsänderung kommen sollte. Die meisten von ihnen sind Anhänger einer parlamentarischen Demokratie. Man will keine Autokratie in der Türkei haben.

Noch vor einigen Jahren sind viele Deutsch-Türken in Scharen aus Deutschland ausgewandert, um in der Türkei zu arbeiten. Stellen Sie nun einen rückläufigen Abwanderungstrend gen Deutschland fest?

Wir haben bei der TAVAK-Stiftung eine Untersuchung in der Türkei durchgeführt. Von 2006 bis 2012 sind knapp 253.000 primär gut ausgebildete Deutsch-Türken von Deutschland in die Türkei ausgewandert. Diese Menschen hatten oft das Gefühl, dass sie in Deutschland aufgrund ihrer Herkunft, ihres Glaubens diskriminiert werden. Sie sind davon ausgegangen, dass sie in der Türkei bessere Chancen haben würden. Viele von ihnen waren zu Beginn sehr zufrieden, viele haben sich selbständig gemacht, konnten sich in Führungspositionen bewähren.

Seit Anfang des Jahres 2014 hat sich die Lage verschlechtert, es herrscht eine große Unzufriedenheit unter den Neuankömmlingen. Das macht sich auch an den Zahlen bemerkbar. Knapp 90.000 Deutsch-Türken, die in den Jahren 2006 bis 2012 in die Türkei ausgewandert sind, sind wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Unsere Untersuchungen zeigen auch: Falls sich eine Mehrheit der Türken am 16. April für ein Präsidialsystem entscheidet, würde diese Zahl noch weiter steigen.

Woran machen Sie die Unzufriedenheit dieser Menschen fest?

Zum einen an der sich verschlechternden wirtschaftlichen Situation. Bis 2012 hatte die Türkei sehr hohe Wachstumsraten, das kumulative Wachstum lag mit 53 Prozent nur knapp hinter dem von China und Indien. Seit 2013 beobachten wir eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage. In diesem Jahr beträgt das Wirtschaftswachstum gerade einmal 2,9 Prozent. Das ist für die Türkei schon alleine wegen des großen Bevölkerungswachstums nicht ausreichend. Jedes Jahr wächst die türkische Bevölkerung um über eine Million Menschen. Zum anderen herrscht eine große Unzufriedenheit mit dem politischen System.

Faruk Sen
Faruk Sen ist der Vorstand der TAVAK-Stiftung in IstanbulBild: ZB - Fotoreport

Ein weiterer Punkt kommt hinzu: Was die Lebenshaltungskosten betrifft, ist die Türkei wesentlich teurer als Deutschland. Ich staune darüber auch jedes Mal wieder, wenn ich in Deutschland bin. Diese Kosten schlagen sich direkt im Leben vieler Familien nieder. Die steigende Inflation- und Teuerungsrate sorgt unter anderem dafür, dass viele Eltern, die ihre Kinder auf eine Privatschule schicken, diese Kosten nicht mehr tragen können.

Gibt es bestimmte kulturelle Unterschiede hinsichtlich der Arbeitsbedingungen, die gerade Deutsch-Türken in der Türkei als schwierig empfinden?

Im Allgemeinen gibt es keine wesentlichen Unterschiede zwischen dem türkischen und dem deutschen Arbeitsmarkt. Bei den Arbeitslosenzahlen gibt es allerdings erhebliche Unterschiede. Die Arbeitslosenquote ist in der Türkei mit mehr als 13 Prozent mehr als doppelt so hoch wie in Deutschland. Und diese hohe Arbeitslosenquote macht den Menschen in der Türkei schwer zu schaffen.

Würden Sie von einem Rückkehrtrend sprechen?

Ich würde von einem Rückkehrtrend sprechen, ja. Ein solcher Trend ist natürlich sehr schädlich für die Türkei. Gerade die Deutsch-Türken, die zunächst in die Türkei ausgewandert waren und jetzt wieder zurückkommen, sind die gut ausgebildeten Leute.

Prof. Faruk Sen ist der Vorsitzende der Europäisch-Türkischen Stiftung für Bildung und wissenschaftliche Forschung (TAVAK). 

Das Gespräch führte Daniel Heinrich.