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Der Tigerstaat im Baltikum

28. Mai 2002

- In Estland ist Europa längst angekommen

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Köln, 28.5 2002, DW-radio, Ute Schaeffer

Aus der Nähe betrachtet, ist der Tigerstaat im Baltikum ein Winzling: Gerade einmal 1,4 Millionen Menschen leben in Estland. Diese Überschaubarkeit machte radikale Schritte und Reformen in Politik und Wirtschaft nach der Unabhängigkeit vor elf Jahren möglich: Die Polittechnokraten aus der Sowjetzeit wurden aus ihren Ämtern gedrängt - die junge Generation dominiert in Politik und Wirtschaft.

Die Esten haben sich nie als Teil des sowjetischen Riesenreiches gesehen. Bis heute sprechen sie von der sowjetischen Besatzung - und ihre Entscheidung für Europa ist eine Entscheidung, die sie aufgrund ihrer historischen Erfahrungen trafen. Die außenpolitischen Prioritäten waren für alle estnischen Regierungen seit der Unabhängigkeit dieselben, erklärt Kristina Ojuland, die seit dem Regierungswechsel im Januar neue estnische Außenministerin ist:

"Was die Außenpolitik angeht, so gibt es keine großen Veränderungen, die neue Regierung setzt die Politik der Vorgängerregierungen fort. Wir haben die gleichen Prioritäten in unserer Außenpolitik wie alle anderen estnischen Regierungen seit der Unabhängigkeit, das heißt: Integration in die europäischen Strukturen und Vorbereitung für den NATO-Beitritt."

Die Esten selbst sehen den EU-Beitritt zur Zeit noch mit gemischten Gefühlen. Im kommenden Jahr soll es ein Referendum geben, in dem die Bevölkerung über den Beitritt zur Europäischen Union abstimmen soll. Doch bis dahin ist noch einiges an Überzeugungsarbeit zu leisten. Viele Esten fragen sich, ob das kleine Estland im Konzert der großen europäischen Mächte tatsächlich etwas zu sagen haben wird. Viele denken so wie die 32-jährige Eva, die als Assistenzärztin in einem Tallinner Krankenhaus arbeitet:

"Du verlierst auch viele Dinge. Vielleicht ein Stück Deiner Identität und in gewisser Hinsicht etwas von deiner nationalen Eigenart. Schließlich konnten wir Esten erst 1991 unsere eigene Flagge wieder zeigen - das ist eine sehr, sehr kurze Zeit. Das ist jedenfalls meine persönliche Meinung."

Das weit verbreitete Misstrauen gegenüber jedweder politischen Union resultiert aus den historischen Erfahrungen während der sowjetischen Zeit. Mit deren Folgen hat Estland bis heute zu kämpfen, meint Präsidentenberaterin Andra Veidemann:

"Während der Zeit der sowjetischen Besatzung gab es in Estland wichtige Schwerindustriebetriebe. Als diese aufgebaut wurden, bedeutete das, dass die Rohmaterialien für diese Produktionen aus anderen Regionen der Sowjetunion nach Estland gebracht wurden. Auch die Arbeiter kamen vielfach aus anderen Regionen der Sowjetunion. Und die fertigen Produkte gingen anschließend ebenfalls wieder in andere Regionen des Sowjetreiches. Für Estland blieb lediglich die Umweltverschmutzung. "

Wie in anderen Transformationsgesellschaften haben die wirtschaftlichen Veränderungen in den vergangenen zehn Jahren auch die estnische Gesellschaft in Gewinner und Verlierer gespalten: Wer im öffentlichen Dienst arbeitet, wer älter ist oder keine Fremdsprachen beherrscht, hat deutlich weniger Chancen, einen gut bezahlten Job zu finden. Karin gehört zu den Gewinnern, der jungen städtischen Oberschicht. Sie arbeitet als Online-Brokerin. Von ihrem Gehalt unterstützt sie ihre Familie. Als die Wende kam, war Karin gerade mit der Schule fertig. Sie hat im Ausland studiert, spricht englisch, spanisch und deutsch. Europa ist für sie geradezu eine Notwendigkeit - für ihr Land und für sie persönlich:

"Für mich ist es sehr wichtig, dass Estland in Europa ist, denn ich persönlich habe dann das Gefühl, dass ich mehr Wahl habe. Ich habe eine sehr gute Ausbildung und mit dieser Ausbildung habe ich sehr gute Chancen, auch woanders zu arbeiten, das soll nicht heißen, dass ich das dann auch sicher tun werde, aber ich weiß, es ist möglich und ich weiß, ich könnte mich bewerben um einen Job, und der Markt - oder der Arbeitgeber - wird dann entscheiden, ob ich gut genug bin."

Für Karin - wie für die meisten jungen Esten - ist Europa also eine Herausforderung.

"Für mich als Wirtschaftswissenschaftlerin ist es sehr klar, dass Estland nur einen sehr kleinen Markt hat und dass es in Europa viel bessere Möglichkeiten geben wird, unsere estnischen Produkte auch zu verkaufen. Auch die Konkurrenz wird dann größer sein, das ist klar, aber nur so kommt man weiter, denke ich." (lr)