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Der stille Held

Tom Mustroph22. Januar 2016

Nairo Quintana ist in Kolumbien ein Volksheld. Still und ehrgeizig hat er sich an die Spitze des Radsports gearbeitet. Jetzt will er den Sieg bei der Tour de France - aber ist er genug Leader-Typ dafür?

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Nairo Quintana jubelt bei der Tour de France (Foto: BELGA PHOTO DAVID STOCKMAN)
Bild: Getty Images/AFP/D. Stockman

Nairo Quintana ist gewachsen. Nicht physisch. Da ist nur seine Muskulatur härter und stärker ausgeprägt geworden, wie sein Masseur Mikel Otero der DW erzählt. Nein, gewachsen ist er als Führungsperson. In seiner Heimatregion Boyaca initiiert er Regierungsprogramme für bessere Bildungschancen für Kinder und Jugendliche. Er ist Frontmann für Sportförderinitiativen und fuhr gemeinsam mit dem Bürgermeister Bogotas Rad, um diese klimaneutrale Fortbewegungsart für den Alltag zu propagieren. Bei seinem Saisonauftakt im argentinischen San Luis lobte er, ganz Staatsmann, auch die dortigen Anstrengungen: "Mit allem was die Tour de San Luis gemacht hat, wie sie gewachsen ist, wollen auch die Kinder mehr am Sport teilhaben. Der Gouverneur hat erzählt, dass sie den Kindern Räder geben, um in die Schule zu kommen. Das finde ich sehr gut."

Das Ende der Unbekümmertheit

Als Sportler ist Quintana ebenfalls gewachsen. Er ist jetzt der Leader bei Team Movistar, nicht mehr Co-Leader neben Altmeister Alejandro Valverde. In dieser Rolle hat er an Spontanität verloren. Sein sportlicher Leiter José Luis Jaimerena wertet dies aber positiv, als eine Verbesserung in Fragen von Strategie und Taktik. "Er gewinnt von Jahr zu Jahr mehr Erfahrung. Er ist schon einige Zeit Profi. In der ersten Zeit war er viel impulsiver. Und logischerweise lernt er jedes Jahr dazu. Er ist da sehr verbessert."

Nairo Quintana (Photo credit should read LUK BENIES/AFP/Getty Images)
Bild: AFP/Getty Images/L. Benies

Quintana beobachtet an sich selbst auch Veränderungen. Den größten Sprung hat aus seiner Sicht zwischen seinen beiden Tourteilnahmen 2013 und 2015 gemacht. "Das erste Mal war mir gar nicht so richtig bewusst, was ich geschafft habe. Im letzten Jahr habe ich eine sehr ausgefeilte Vorbereitung bestritten, habe mich ganz auf die Tour konzentriert, und war viel gründlicher. Das war schon anders. Das ist der größte Unterschied zwischen dem ersten und dem zweiten Mal." Auf das dritte Mal bereitet er sich noch gründlicher vor. Denn jetzt will er auch den Schritt aufs oberste Podest der Tour de France machen. Entschlossen meint er: "Ich nehme da jetzt zum dritten Mal teil und hoffe, dass es endlich klappt." Dem Mittzwanziger läuft zwar die Zeit noch nicht weg, Chris Froome beispielsweise war 28 Jahre alt, als er zum ersten Mal die Tour gewann. Aber Quintana will selbst endlich den Schritt vom Talent zum Tribun machen.

Nebenbwirkungen des Ruhms

Was nach einem solchen Sieg in seiner radsportbegeisterten Heimat passieren könnte, mag er sich allerdings noch nicht so recht vorstellen. Schon jetzt leidet er zuweilen an den Nebenwirkungen, die Berühmtheit mit sich bringt. Beim Training werden er und sein Bruder von der Polizei begleitet. Zum einen, um der wachsenden Schar von Fans Herr zu werden, die sich zumindest auf den ersten Kilometern an sie hängen. Zum anderen, um den Alltagsverkehr nicht einzuschränken.

Tour de France 2015 Froome und Quintana (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa/S. Nogier

Regelrecht erzürnt ist Quintana, wenn es um Geschäfte geht, die andere Leute mit seinem Namen machen: "Es gibt eine Menge Leute, die meinen Namen ausnutzen, um Vorteile zu erlangen. Manchmal denken die Menschen dann, dass seien Familienmitglieder oder Vertraute von mir. Aber das ist alles Lüge."

Quintana merkt: Ruhm kann anstrengend sein. Manchmal anstrengender als Kartoffeln mit dem Rad ausfahren. Das soll Quintana, dessen Vater Landwirtschaft betreibt, der Legende nach als Kind getan haben. Es ist die Geschichte, die ihn in seiner Heimat so beliebt gemacht hat. Von ganz unten bis ganz oben, naja, fast ganz oben. Denn im Radsport wird sein Giro-Gesamtsieg 2014 zwar gewürdigt, aber es fehlt ihm eben noch das Gelbe Trikot der Tour im Schrank.

Anfänge eines Überfliegers

Ein Lächeln fliegt hingegen über das Gesicht des Burschen aus den Bergen, wenn er sich an seine Anfangszeiten erinnert. "Als ich mit dem Radsport begonnen habe, bin ich mit anderen Sportlern aus der Provinz gefahren. Viele von ihnen waren in höheren Altersklassen. Aber ich war mit ihnen, und ich gewann. Manchmal musste ich auch in den höheren Kategorien fahren, weil es da mehr Teilnehmer gab als in meiner eigenen. Bei einem Wettbewerb in meiner Stadt, ein Bergzeitfahren war das, wurde ich Dritter. Und danach wollten sie mich ausschließen, weil ich nicht das entsprechende Alter hatte", erzählt Quintana im gespräch mit der DW.

Nairo Quintana beim Giro d'Italia 2014 (Foto: Getty)
Bild: Getty Images/Harry Engels - Velo

Quintana war 17, das Rennen war ab 18 Jahre. So jungenhaft leicht geht es auch für einen Nairo Quintana auf dem Profiniveau nicht mehr zu. Radsport ist harte Arbeit geworden. Unendliche Trainingsrunden, die um halb sechs beginnen, wie Bruder Dayer verriet, und drei, vier Stunden auf 2.500 bis 3.000m Höhe andauern. Echte Plackerei ist das. Aber es scheint, als liebt Quintana einfach, was er tut. Und er wirkt bestimmter, fokussierter auf seine Beobachter. Anfangs noch eher ein stiller, fast scheuer Athlet, kann Quintana heute zumindest im Rennen als echter Leader auftreten. Leise zwar, aber vernehmbar. Vielleicht ist es diese Ernsthaftigkeit und Reife, die ihn nun zum großen Triumph bei der Tour de France führen wird.

Träume von der Bahn

Manchmal aber schaut Quintana neidisch auf die Radsportler, die auf der Bahn ihre Runden drehen. "Wenn ich kein Kletterer wäre, dann würde ich gern auf der Bahn fahren", erzählt er und erklärt: "Ich habe das zwar niemals trainiert, aber doch an Wettbewerben teilgenommen. Das hat mir sehr gefallen, denn das ist ein Spektakel wie Fußball. Man geht in ein Stadion. Man sieht, wie alle fahren. Es sind Räder ohne Bremsen, ein Gang nur, große Geschwindigkeit."

In diesem Jahr wird der Mont Ventoux sein Stadion sein. Und eine Bremse braucht er beim Erklettern der langen Serpentinen auch nicht.