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Der Schmelztiegel

Konstantin Klein27. Juni 2002

Eigentlich ist New York das Symbol für den Schmelztiegel Amerika, für die Integration der Einwanderer. Doch in diesen Tagen gibt es noch einen Schmelztiegel. DW-TV-Korrespondent Konstantin Klein berichtet.

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Eine Frage wird doch wohl noch erlaubt sein, wenn es um George Washington und die Ursprünge der gleichnamigen Stadt geht - die Frage: Was hat er sich dabei nur gedacht? Noch vor zweihundertfünfzig Jahren war, wo heute Weißes Haus, Washington Monument und das State Department stehen, nichts als Sumpf, malariaverseucht und ungesund.

Das mit dem Sumpffieber hat sich dank der modernen Medizin erledigt; die Sache mit den Sümpfen ist - wie in jeder modernen Hauptstadt - inzwischen anders zu verstehen; doch angenehmer ist das Leben in den Niederungen Washingtons auch heute nicht.

Auch gesundheitsbewußte Washingtonians denken in diesen Tagen nicht daran, mit dem Rad zur Arbeit zu fahren - aus Rücksicht auf Kollegen und Kunden müßten sie nach der Ankunft im Büro noch einmal duschen, und
Duschen gibt es in den wenigsten Büros dieser Stadt.

Der Weg zur Salatbar zur Mittagszeit wird washingtonuntypisch langsam zurückgelegt; Schwitzflecken im Hemd gelten als unprofessionell. Leider sind sie bei Temperaturen von 35 bis 40 Grad Celsius um Schatten kaum zu vermeiden (übrigens auch ein Grund, weshalb sich Amerikaner nie an die Celsius-Skala gewöhnen konnten: 95 bis 105 Grad - nach Fahrenheit - klingen einfach viel beeindruckender!).

Seit den Zeiten des Stadtplaners Pierre-Charles L'Enfant, der schon 1791 eine grandiose Vision der künftigen Hauptstadt hatte, denken Washingtonians darüber nach, wem sie denn jetzt noch schnell ein Denkmal setzen könnten. Die bedeutendsten Präsidenten haben schon eins, desgleichen die bedeutendsten Kriege der letzten hundert Jahre - aber auf die Idee, dem Erfinder der Klimaanlage ein Denkmal zu setzen, ist
unverständlicherweise noch keiner gekommen.

Dabei gehört das Brummen der Klimaanlagen zu Washington und seinen Wohnvorstädten wie das Rauschen der Nordsee zu Helgoland; dieser Vergleich ist übrigens aus einer gewissen Sehnsucht des Autors heraus entstanden. Privathäuser, Bürogebäude, Geschäfte, Autos und sogar U-Bahn-Züge sind klimatisiert - mit dem Ergebnis, dass die Kühlkosten im Sommer mindestens so hoch sind wie die Heizkosten im Winter.

Und weil der Washingtonian als solcher sich gerne und viel von einem Ort zum anderen bewegt - schließlich signalisiert das Bedeutung und Unentbehrlichkeit - wechselt er ständig vom Kalten (Sakko an, Krawatte dicht) ins Heiße (Sakko aus, Krawatte auf halbmast) ins Kalte (Sakko an, Krawatte wieder hoch)... Dann wundern sich die Menschen, wenn sie mitten im Sommer rheumatische Beschwerden und Halsschmerzen bekommen.

Das ganze Jahr über sonnt sich New York im dank der aktuellen Gesetzgebung schon etwas verblichenen Ruhm des Melting Pot, des Schmelztiegels, der aus Einwanderern Amerikaner macht. In diesen Tagen hat New York Konkurrenz: der Melting Pot Washington macht aus Amerikanern Schmelzwasser.