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Der neue Tag

7. Juli 2012

Von Pastor Diederich Lüken, Stuttgart

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Der evangelische Pastor Diederich Lüken, Stuttgart
Der evangelische Pastor Diederich Lüken, StuttgartBild: EKD

Jeder Morgen hat für den aufgeweckten Schläfer ein merkwürdiges Zwielicht. Der neue Tag, der nun anbricht, ist der erste Tag für den Rest deines Lebens. So suggeriert ein gern zitierter Spruch. Also auf ins neue Leben, so scheint er uns einzuflüstern, der Tag ist noch jung, das Leben ist schön, und alle Möglichkeiten stehen offen. Doch genau so richtig ist das scheinbare Gegenteil dieses Spruches. Dieser Tag kann auch der letzte deines Lebens sein. Niemand kann sich in Sicherheit wiegen, dass er den Abend dieses Tages noch erlebt. Das ist die Spannung, die jeder Morgen enthält:

Ist dies nun der erste Tag oder der letzte Tag? Wie kann oder sollte ich diesen Tag leben, wenn ich nicht weiß, ob er der erste oder der letzte Tag meines Lebens ist? In der Regel verscheucht man solche Gedanken sofort, wenn sie denn überhaupt auftauchen. Der Tag lebt sich scheinbar selbst. Ein Haufen Verpflichtungen wartet auf mich. Die Familie fordert ihr Recht. Der Arbeitsplatz ruft. Kontakte zu anderen Menschen wollen gepflegt werden. Und wenn dann doch endlich der Feierabend kommt, sind die Glieder und Gedanken schwer geworden, zu schwer, um noch etwas anderes zu tun, als das Fernsehprogramm halbwegs zu genießen.

So lässt ein unbestimmbares Grau diesen Tag in der langen Kette ähnlicher Tage konturlos werden und verschwinden. Verdirbt einem da der Gedanke, dass dies der letzte Tag sein könnte, nicht endgültig die Laune? Macht er am Ende nicht schwermütig? Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall. Wenn mir bewusst ist, dass dieser Tag der letzte sein könnte, den ich erlebe, bekommt er ein ganz anders Gewicht und Gesicht. Das Grau des täglichen Einerlei genügt dann nicht mehr. Ich begebe mich auf die Suche: Was macht diesen Tag einzigartig? Was hebt ihn heraus aus den vielen Tagen, die ich schon hinter mich gebracht habe? Das muss ja nichts Großes sein. Die großen Augenblicke des Lebens sind rar, sonst wären sie nicht groß. Nein, es kommt darauf an, in dem, was mich umgibt, das Außergewöhnliche zu entdecken und zu erleben.

Unter der Patina des Gewohnten gilt es, den Goldglanz des Lebendigen zu erblicken. Dann kann das Herannahen einer Straßenbahn, der Grauschleier eines Nieselregens, die Spiegelung einer Schaufensterscheibe zur Offenbarung werden – von der Blütenpracht in einem Vorgarten oder dem Frühlicht der Sonne ganz zu schweigen. Die Stumpfheit der Normalität ist durchbrochen und ich werde von der Schönheit oder der Besonderheit dieses Augenblickes ergriffen. Er ist unverwechselbar, er prägt den Tag, er gibt ihm seine einmalige Gestalt. Vielleicht bin ich morgen nicht mehr auf dieser Welt. Doch dieses Erlebnis gibt diesem Tag die Würde, die er braucht, um der letzte zu sein.

Man kann sich solche Augenblicke allerdings nicht machen. Sie kommen unverhofft und überraschend. Sie sind unverfügbar. Sie sind Geschenk und Gnade. Wir verdanken dieses Geschenk der Güte Gottes, die sich in solchen kostbaren Augenblicken zeigt und das Herz bewegt. Sie ist es, die sich in dem offenbart, was meinen Tag so kostbar macht. Sie gibt meinem Leben Tiefe und Würde gerade dann, wenn ich meiner Vergänglichkeit innewerde und den Tag preise, der mein letzter sein könnte. Nur eines ist zu tun: Die Sinne offen zu halten für das Außergewöhnliche, dafür aufgeweckt zu sein in jedem Sinne des Wortes; offen zu sein also für Gott. Darum steht auf dem Vorsatzblatt meines Tagebuches die Aufforderung: „Sei jeden Tag bereit, das Kostbare zu empfangen, das ihn wert und würdig macht, der letzte Tag deines Lebens zu sein.“