1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Der Mensch ist kein Projekt

Markus Witzemann31. Oktober 2012

Am 31. Oktober feiern die protestantischen Christen den Reformationstag. Sie erinnern sich an die großen Veränderungen. Markus Witzemann entdeckt ihre Auswirkungen auch heute noch, wie in der Beziehung zu seinem Sohn.

https://p.dw.com/p/16W52
Denkmal für den deutschen Reformator Martin Luther (1483-1546) auf dem Marktplatz von Wittenberg. (Foto: dpa)
Luther-Denkmal in WittenbergBild: picture-alliance/ZB

Drei Augenblicke

Mein Sohn Jakob gibt dem Ball einen Tritt und der rollt quer über den Hof. Gerade einmal eineinhalb Jahre ist der Junge alt, aber er freut sich sichtlich über die Fähigkeiten, die er jeden Tag hinzugewinnt. Auch die Nachbarin nickt anerkennend: „Das wird bestimmt mal ein Fußballspieler.“

Mein Sohn Jakob hört einer Gruppe Musiker beim Üben zu und fängt sofort an, mit den Zeigefingern hin und her zu winken. Er lacht dabei vor Vergnügen. Die Musiker freuen sich mit ihm: „Das wird bestimmt mal ein Dirigent.“

Mein Sohn Jakob fährt mit seinem Spielzeugauto auf dem Wohnzimmerboden herum. Er hat die Lenkung noch nicht so richtig unter Kontrolle, aber Spaß macht es ihm trotzdem, das hören alle im Haus. Stolz bemerkt der Großvater: „Das wird bestimmt mal ein Rennfahrer.“

Alles fürs Kind

Unwillkürliche Kommentare zu den Entwicklungsschritten eines Kleinkindes. Auch wenn sie nicht ganz ernst gemeint sind, so zeigen sie doch: Ein Kind weckt Hoffnungen, ein Kind lädt ein zum Träumen. Was aus ihm wohl später werden wird? Mir als Vater geht es da nicht anders; ich habe auch so meine Wünsche und Vorstellungen für sein Leben, natürlich.

Kind vorm Fenster Schlagworte
Bild: Markus Witzemann

Ich will, wie wohl alle Eltern, nur das Beste für mein Kind. Es soll ihm an nichts fehlen. Optimale Bedingungen, damit er sich optimal entwickelt. Er muss nicht Fußballspieler, Dirigent oder Rennfahrer werden, das nicht, Aber erfolgreich, humorvoll, beliebt, intelligent und selbstbewusst – das ist doch nicht zu viel verlangt, oder?

Vielleicht ist es zu viel, wenn es verlangt wird. Vielleicht ist es ein Problem, wenn ich mein Kind zum Projekt mache. Wenn die erfolgreiche Erziehung an die Stelle der neugierigen Beziehung tritt. Wenn ich schon vorher weiß, wie die Zukunft meines Kindes aussehen sollte. Vielleicht geht es mir dann doch mehr um mich als um mein Kind.

Erwartungsdruck lähmt

Die Vorstellungen der eigenen Eltern, der Lebenspartner, der Vorgesetzten, können auch für Erwachsene zur Last werden. Wenn das Gefühl Überhand nimmt, dass sie die Erwartungen enttäuschen. Dass sie tun können, was sie wollen, sie werden den Ansprüchen nie genügen. Schlimmer wäre dann nur noch, wenn selbst Gott von ihnen enttäuscht wäre.

Auch deshalb ist mir heute noch wichtig, was Martin Luther schon vor 495 Jahren entdeckte: einen Gott, dessen Ansprüchen ich genügen kann. Dieser Gott würde mir nicht meine Fehler vorhalten, sondern mich anerkennen, so wie ich bin. Christen nennen das „Gnade“ und meinen damit gerade nicht ein herablassendes „Na gut, aber eigentlich hast Du es nicht verdient“. Niemand muss und kann sich diese Zuwendung Gottes erarbeiten; sie ist ein Geschenk.

Luthers Thesenanschlag / Gem.v.Pauwels Luther, Martin Reformator. 1483-1546. - 'Martin Luthers Thesenanschlag'. - (Thesenanschlag an der Schlosskirche zu Wittenberg am 31. Oktober 1517). Gemaelde, 1872, von Ferdinand Pauwels (1830-1904). Oel auf Leinwand, 85 x 72 cm. Eisenach, Wartburg. E: Luther and Theses / Gem.v.Pauwels
Luthers ThesenanschlagBild: picture-alliance / akg-images

Martin Luther stellte die Thesen von einem so unterschiedslos liebenden Gott auf und löste damit große Veränderungen für die westliche Kirche aus. Aus der Reformation gingen verschiedene protestantische Kirchen hervor. Ihnen allen gemein aber ist die Hoffnung auf einen Gott, der mich als glaubenden und zweifelnden Menschen wahrnimmt – nicht meine Leistungen.

Gemeinsam unterwegs

Vielleicht ist Gott ja tatsächlich neugierig auf mich. Auf die Momente, in denen mir alles gelingt, wenn ich mit mir selbst zufrieden bin. Aber auch auf die Umwege, die ich manchmal gehe. Auf das, was nicht geplant war und mir möglicherweise auch nicht passt. Vielleicht sind solche Momente sogar die interessanteren.

An diesen Gott will ich gerne glauben. Und ich möchte versuchen, auch anderen so zu begegnen – meinem Sohn zum Beispiel. Deshalb höre ich noch nicht auf, von ihm zu träumen und für ihn zu planen. Aber das nächste Mal, wenn er mich überrascht und alles wieder ganz anders ist, als ich es geplant hatte, dann kann ich ja versuchen, mich mit ihm zu freuen oder zu ärgern, zu lachen oder ihn zu trösten, ganz planlos. Mein Sohn Jakob sollte es mir wert sein.

Markus Witzemann, Berlin
Markus WitzemannBild: Christian Engels Evangelische Rundfunkarbeit

Markus Witzemann (Jahrgang 1977) arbeitet als Journalist in Berlin. Er ist verheiratet mit Pastorin Nicole Witzemann. Gemeinsam sind sie Mitglied einer Baptistengemeinde in Berlin-Schöneberg. Dort engagiert sich Markus Witzemann in Bereichen wie Öffentlichkeitsarbeit, Tontechnik, Hausaufgabenhilfe, verschiedenen Bandprojekten oder auch dem Bläserchor.