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Der letzte große Wurf

Bianca Kopsch (aus Rio)14. September 2016

Marianne Buggenhagen gehört seit Jahrzehnten zu den erfolgreichsten Behindertensportlern der Welt. In Rio will die 63-Jährige im Diskus ihre letzte Medaille holen und damit ihre Karriere beenden - am liebsten golden.

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China Paralympics in Peking - Marianne Buggenhagen Diskuswerfen
Bild: picture-alliance/dpa/EPA/D. Azubel

40 Grad in Rio de Janeiro. Die drückende Mittagshitze ist kaum auszuhalten. Die Schattenplätze in der internationalen Zone des Athletendorfs sind heiß begehrt. Im Sand und auf dem Kunstrasen des Gemeinschaftsplatzes drängen sich Journalisten, Trainer und Sportler aus aller Welt in den Liegestühlen, geschützt vor der Sonne. Fehlende Gliedmaßen, Prothesen, Krücken und Fehlbildungen aller Art sind hier kein Hingucker. Bei den Paralympics herrschen andere Sehgewohnheiten.

Eine ältere Dame im Rollstuhl fährt die Rampe hinunter, die von den Wohnblöcken der Athleten auf den Platz führt. Rotes Germany-T-Shirt, erhitzter Kopf, grauer Igelhaarschnitt. Es ist die "Grande Dame" des deutschen Behindertensports höchstpersönlich: Marianne Buggenhagen, 63 Jahre alt, neun Paralympicsiege und 23 Weltmeistertitel. Auch bei ihren siebten Paraylmpischen Spielen startet sie in ihrer Schadensklasse F55 als Topfavoritin. "Wenn nicht irgendetwas Unvorhergesehenes passiert, hole ich relativ sicher eine Medaille. Welche Farbe, wird sich zeigen." Ihr verschmitztes Lächeln verrät: Sie weiß, was sie kann. Vier Jahrzente ist sie ihrem Erfolgsmotto treu geblieben: immer weiter! "Ich wollte meine Leistungsgrenze erreichen, wollte sehen, wie weit ich komme", erklärt sie. Und das ist viel weiter, als jemals für möglich gehalten.

Aus der Reha aufs Podium

Ihre Erfolgsgeschichte beginnt mit einem Schicksalsschlag: Ein harmloser Bandscheibenvorfall endet für sie im Rollstuhl. Querschnittslähmung. Mit nur 23 Jahren. In der Reha entwickelt sie ihren sportlichen Ehrgeiz. "Wenn ich den Sport nicht gehabt hätte, wäre ich im Pflegeheim gelandet oder asozial geworden", schreibt sie in ihrer Autobiografie. Es war der Auftakt zu einer beispiellosen Karriere. Gleich bei ihren ersten DDR-Meisterschaften gewinnt die gebürtige Mecklenburgerin alles, was möglich ist: vom Kugelstoßen über den 100-Meter-Sprint und verschiedene Schwimmdisziplinen bis hin zum Tischtennis. In elf Disziplinen tritt sie an. Zwischen 1977 und 1990 holt sie insgesamt rund 130 nationale Titel.

Deutschland DDR-Meisterschaften - Marianne Buggenhagen
Die Anfänge: Buggenhagen 1980 in Ost-BerlinBild: Marianne Buggenhagen

Nach dem Mauerfall erobert sie im Rollstuhl die ganze Welt. Im Diskuswerfen, Kugelstoßen, Speerwurf und Mehrkampf gewinnt sie international Medaillen. Hinzu kommen zahlreiche Ehrungen, viele davon bedeutsam. So wird sie 1994 vor Steffi Graf und Franziska van Almsick zur "Sportlerin des Jahres" gewählt. Als erste behinderte Athletin überhaupt. Insgesamt fünf Mal erhält sie das Silberne Lorbeerblatt, Deutschlands höchste sportliche Auszeichnung. Und 2010 bekommt sie sogar das Bundesverdienstkreuz verliehen.

Die Schattenseite der Medaille

Doch trotz Ruhm und Ehre: Leben kann Marianne Buggenhagen von ihren sportlichen Erfolgen nicht. Ihre zahlreichen Anträge auf finanzielle Förderung werden lange abgelehnt. Oft ohne Begründung. "Jahrzehntelang habe ich mir meinen Sport selbst finanziert", erklärt sie. "Ich habe mich häufig gefragt: Kann ich mir das überhaupt leisten?" Ein Schulterzucken. Ein vielsagender Blick. "Erst seit zwei Jahren bin ich im 'Top Team‘ für die Paralympics und bekomme finanzielle Unterstützung von der Stiftung Deutsche Sporthilfe. Dadurch habe ich keine Unkosten mehr. Verdienen tue ich dabei nichts." Die gelernte Krankenschwester arbeitet als Sozialarbeiterin in einer Berliner Klinik für Querschnittsgelähmte. Immer Teilzeit, sonst wäre ihre Sportkarriere nicht möglich gewesen. "Das fällt mir jetzt auf die Füße", so ihr nüchternes Resümee. "Bei der Rente werde ich große Einbußen haben." Am 1. Januar kommenden Jahres ist es soweit. Die Schattenseite der Medaille.

In anderen Ländern gibt es WM-Prämien, in Deutschland meist nur einen feuchten Händedruck. Und das, obwohl sich die öffentliche Wahrnehmung positiv verändert habe, meint Buggenhagen. "Doch die strukturelle Entwicklung stagniert. Vor allem in der Nachwuchsförderung. Wir brauchen mehr professionelle Trainer und barrierefreie Trainingshallen. Wir müssen die Voraussetzungen schaffen und professioneller arbeiten, wenn wir erfolgreich sein wollen", sagt sie. "Ich habe versucht, etwas zu ändern, es ist aber schwer. Wenn die Beeinträchtigten nicht selbst aktiv werden, passiert nichts. Von oben kommt keine Hilfe."

Marianne Buggenhagen Goldmedaille Paralympics Peking 2008
Buggenhagen: 9 Paralympicsiege, 23 WeltmeistertitelBild: picture-alliance/ dpa

Ende einer Ära

Diesen Kampf will sie jetzt anderen überlassen. Nach Rio verlässt Buggenhagen die Welttribüne des Spitzensports. Am vorletzten Tag ihrer siebten Paralympischen Spiele hat sie ihren letzten großen Wettkampf. Danach will sie den Angelschein machen, mit ihrem Mann die Welt bereisen und ihren Berliner Garten umgraben, ohne dabei die Hände für den Sport schonen zu müssen. "Bis vor vier Monaten habe ich mich gerne gequält. Ich wollte wissen, wo meine Leistungsgrenze liegt. Jetzt habe ich sie erreicht", stellt sie fest. "Es fällt mir schwer, mein Niveau zu halten. Und ich habe eine hohe Erwartungshaltung. Es ist Zeit, dass ich aufhöre." Sie sagt das ohne Wehmut. Eine klare Entscheidung.

Dabei könnte man ihr Understatement unterstellen: Mit ihren 63 Jahren ist Marianne Buggenhaggen nicht nur die Älteste in der 155-köpfigen deutschen paralympischen Mannschaft, sondern auch Jahrzehnte älter als ihre internationale Konkurrenz. Doch sie ist in Topform. Bei der EM im italienischen Grosseto hat sie im Juni in ihrer Paradedisziplin, dem Diskuswurf, Gold gewonnen und damit ihre 40. internationale Goldmedaille geholt. "Leistung ist keine Frage des Alters, sondern des Willens und des Kämpfens", wird sie häufig zitiert.

Brasilien Marianne Buggenhagen im Athletendorf in Rio de Janeiro
Ganz entspannt: Buggenhagen beim DW-Interview im AthletendorfBild: DW/B. Kopsch

Jetzt muss sie weiter zum nächsten Interview. Sie ist gefragt, denn mit ihr geht eine Ära zu Ende. "Ich hätte nie gedacht, dass es so lange und so gut läuft. Jetzt soll es noch einmal so richtig gut laufen - und dann ist Schluss!" Ein fester Händedruck und ein schelmisches Grinsen begleiten die Anspielung auf den Abschiedswunsch: Ihr letzter großer Wurf soll ein goldener sein.