1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Der letzte deutsche Denker in großer Tradition

14. März 2002

Hans-Georg Gadamer begründete die philosophische Hermeneutik und war in seinen letzten Lebensjahrzehnten der "Nestor" der deutschen Gegenwartsphilosophie.

https://p.dw.com/p/1zEY
Hans-Georg Gadamer ist totBild: AP

Hans-Georg Gadamer war nicht nur der älteste, sondern auch imposanteste Repräsentant der Geisteswissenschaftler
Deutschlands. Der Philosoph starb einen Monat nach seinem 102. Geburtstag in Heidelberg.

Der am 11. Februar 1900 in Marburg geborene Sohn eines Chemieprofessors durchlebte das gesamte vergangene Jahrhundert, das er mit seinem umfangreichen Werk
bereichert und mitgeprägt hat. Bis zu seinem Tod war Gadamer ein hellwacher Kopf, dazu ein so kritischer wie souveränder Beobachter des Zeitgeschehens. Noch als Greis konnte der Schüler Martin Heideggers aus dem Stand und ohne jedes Konzept druckreif in freier Rede formulieren.

In den letzten Jahren drängten sich geradezu die Nachgeborenen, um ein Interview oder einfach nur ein Gespräch mit dem auch äußerlich beeindruckenden weißhaarigen Herrn mit besten Manieren zu bekommen.
Denn allen war klar, dass ein Denker dieser Rangstufe, mit diesem enzyklopädischen Wissen und sich wie selbstverständlich in der großen Tradition der deutschen Philosophiegeschichte bewegend, keinen Nachfolger haben würde.

Dabei ist der Ruhm erst spät in das lange Leben des schon 1968 von seinem Heidelberger Lehrstuhl abgetretenen Mannes gekommen: 1960 hatte Gadamer mit seinem Hauptwerk "Wahrheit und Methode" Weltgeltung erlangt. Fortan galt er als Begründer der zeitgenössischen "philosophischen Hermeneutik", der Lehre vom Auslegen und Verstehen.

Gadamer verstand den Menschen als ein auf Verstehen angelegtes Wesen, der die Erfahrung von Geschichte in Sinn
umzuwandeln genötigt ist. Wer je diesen lebhaften Denker bei einer Vorlesung oder einem Vortrag beobachten konnte, sah einen Mann, der das Gespräch und das Wort über alles liebte.

Dialogfähigkeit als Überlebensfrage der Menschheit

Für den späten Gadamer war die Dialogverpflichtung des Menschen die Überlebensfrage der Menschheit überhaupt: "Die Hermeneutik kann ja besonders dies leisten: den Respekt vor dem anderen wieder zu begründen durch die Tatsache, dass man niemals für sich alleine alles sagen kann."

Als der bis zuletzt seine tägliche Weinration genießende Mann diese Erkenntnis eines langen Gelehrtendaseins
formulierte, war er übrigens bereits 99 Jahre alt.

"Zeuge des Jahrhunderts zu sein, ist eine große Last", meinte er damals im Blick auf jenes 20. Jahrhundert, dessen Irrungen und Wirrungen auch Gadamer nicht entkommen konnte.

1939 hatte der Philosoph einen Lehrstuhl in Leipzig erhalten, den er bis 1947 behielt. Im Hitler-Reich konzentrierte er sich auf sein Fachgebiet, in dem er mit einer von Heidegger abgenommenen Arbeit über die Ethik in der griechischen Antike seine Professur begründete hatte.

Unter dem Motto "Auch das geht vorüber" überstand er die
Diktatur ohne nachweisbare Verstrickung oder Widerstand. Gadamer sah sich selbst so bewusst wie bescheiden als deutschen Professor traditionellen Stils.

In späten Jahren zum Nestor seiner Disziplin, ja zur geistigen
Instanz zu werden - das dürfte den persönlich bescheidenen, höchst unspektakulär in einem Einfamilienhaus oberhalb von Heidelberg wohnenden Denker selbst verwundert haben.

Doch er war ja nicht nur ein Philosoph, der kluge Bücher geschrieben hatte, sondern ein Meister deutscher Sprache, der nach dem Tod Ernst Jüngers nicht mehr seinesgleichen hatte.

Die Muttersprache, sagte er, "prägt unsere Identität und ist durch nichts zu ersetzen." Auch Hans-Georg Gadamer
ist nicht zu ersetzen. Seine Werke werden bleiben, aber mehr noch die Erinnerung all derer, die ihn persönlich hören und sehen konnten. Mit seinem Tod geht eine ganze Epoche deutscher Geistesgeschichte zu Ende. (ap/kas)