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Der Kampf um die ungeborenen Mädchen

Priya Esselborn10. April 2006

500.000 gesunde weibliche Föten werden jährlich in Indien abgetrieben - wegen ihres "falschen" Geschlechts. Das ist schon lange strafbar - doch erst jetzt fiel das erste Urteil.

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Es gibt immer weniger indische FrauenBild: picture-alliance/ dpa/dpaweb

Für Frauenrechtlerinnen, Abtreibungsgegner und Rechtsexperten war es ein lang ersehnter Erfolg. Vor wenigen Tagen wurde zum ersten Mal ein indischer Arzt zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, der gezielt Abtreibungen weiblicher Föten vorgenommen hatte. Seit Jahrhunderten gibt es in Indien immer wieder Fälle von Mädchenmorden. Mädchen werden nach der Geburt ertränkt, erstickt, vergiftet oder ihrem Schicksal überlassen. Dies hängt mit der in weiten Teilen Indiens verbreiteten traditionellen Überzeugung zusammen, dass eine Tochter für ihre Familie eine Last ist, ein Sohn jedoch ein Geschenk. Inzwischen bieten mobile Praxen für ein paar hundert Rupien Ultraschalltests an, um das Geschlecht des Fötus zu bestimmen.

Indien - Lachende Mädchen
Lachende indische MädchenBild: picture-alliance/ dpa/dpaweb

Der Gynäkologe Anil Sabhani wurde bereits vor fünf Jahren durch eine Undercover-Aktion in seiner Praxis in Palwal, einem Dorf im nordindischen Bundesstaat Haryana, überführt. Er hatte einer schwangeren Frau mitgeteilt, dass sie ein Mädchen erwarte und ihr gleichzeitig angeboten, dies "zu regeln". Bereits 1994 stellte die indische Regierung die gezielte Abtreibung weiblicher Föten unter Strafe. Laut Gesetz müssen Ultraschallgeräte in Praxen registriert und jede vorgenommene Abtreibung in Indien dokumentiert und gerechtfertigt werden. Treibt ein Arzt gezielt einen weiblichen Fötus ab, wird ihm nicht nur die Lizenz entzogen, ihm drohen auch bis zu sieben Jahre Gefängnis und eine hohe Geldstrafe. Dennoch dauerte es seit Einführung all dieser Gesetze zwölf Jahre, bis mit Anil Sabhani nun tatsächlich ein Arzt zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde.

Ärzte und Eltern verschworen

"Das größte Problem ist, dass sich die Ärzte mit den Eltern verschwören. Daher ist es so schwer, Beweise zu sammeln. Keiner erstattet Anzeige, denn beide Seiten, der Arzt und die Eltern, sind gleichermaßen an dem Verbrechen beteiligt", sagt Ranjana Kumari vom Centre for Social Research, einer der führenden Frauenrechtsorganisation in Neu Delhi.

Seit Jahren kritisieren Menschenrechtler in Indien, dass die pränatale Geschlechtsbestimmung für viele Ärzte wegen des geringen Risikos zum lohnenden Geschäft geworden ist. Mit mobilen Kliniken erreichen sie inzwischen auch die abgelegensten Dörfer. Der Ultraschalltest kostet nur ein paar hundert Rupien. Die Abtreibung nur wenig mehr.

Mädchen gelten als Belastung

Da die Geschlechtsbestimmung des ungeborenen Kindes illegal ist, umgehen viele Ärzte dieses Verbot durch Codes. Den Eltern wird in Zeichensprache mitgeteilt, ob sie einen Jungen oder ein Mädchen erwarten: Daumen nach oben heißt Junge, Daumen nach unten Mädchen. Andere Ärzte raten Eltern, blaue oder rosa Wäsche für ihr Kind zu kaufen. In vielen Regionen gelten Mädchen als Belastung für ihre Familien, so die Ethnologin Gabriele Alex vom Südasien-Institut der Universität Heidelberg - die Mitgiftforderungen vor einer Hochzeit haben schon viele Familien in den Ruin getrieben.

Hinzu kommt, dass in vielen Regionen die Totenrituale von einem Sohn ausgeführt werden sollten. Traditionellen Überzeugungen zufolge siedeln die Mädchen zudem nach ihrer Heirat in das Haus ihres Mannes und können so ihre Eltern im Alter nicht mehr versorgen. Dies müssen die Söhne übernehmen, da es in Indien sonst kein soziales Sicherungssystem gibt.

750 Mädchen auf 1000 Jungen

Auf 1000 Jungen werden weltweit etwa 1050 Mädchen geboren. In Indien hat sich das Geschlechterverhältnis inzwischen drastisch zu Ungunsten der Mädchen verschlechtert. Statistiken zufolge kommen auf 1000 Jungen etwa 927 Mädchen. In einigen Regionen Indiens sind es sogar nur um die 750.

Die Ethnologin Gabriele Alex betont, dass nicht überall Mädchen so sehr diskriminiert werden. Faktoren wie die soziale und ökonomische Situation sowie der kulturelle und der traditionelle Status von Frauen müssten berücksichtigt werden. Bei der Diskriminierung von Mädchen gäbe es ein Nord-Süd-Gefälle. Im Süden hätten die Frauen einen wesentlich höheren gesellschaftlichen Status. Doch der eklatante Mädchenmangel in vielen Regionen des Nordens hat Konsequenzen, warnt die Ethnologin Gabriele Alex: "Es gibt immer mehr Männer, die leer ausgehen, die keine Heiratspartner finden."

Frauenrechtlerinnen befürchten daher, dass damit die Gewalt gegen Frauen zunehmen könnte. Sie hoffen auf ein effektiveres Zusammenwirken von Behörden, Nichtregierungsorganisationen, Menschen und Medien. Fälle gezielter Abtreibung weiblicher Föten müssten angezeigt und die Täter schneller durch die behäbige und auch korrupte indische Justiz verurteilt werden. Die Verurteilung des Mediziners Anil Sabhani könne daher Signalwirkung haben. Sie gilt vielen als wichtiger Erfolg im Kampf um das Leben tausender ungeborener Mädchen in Indien.