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Phänomen Reich-Ranicki

15. April 2009

Die Autobiographie von Deutschlands bekanntestem Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki erschien vor zehn Jahren. Jetzt ist seine verfilmte Lebensgeschichte zum Fernseh-Thema geworden.

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Reich-Ranicki sitzend, umrahmt von Matthias Schweighöefer und Katharina Schüttler, stehend (Foto: dpa)
Reich-Ranicki, umrahmt von Matthias Schweighöfer und Katharina SchüttlerBild: picture-alliance/ dpa

Reich-Ranicki ist ein Phänomen. Der Mann ist ein Tausendsassa. Er war und ist Deutschlands populärster Literaturkritiker. Ein streitbarer Zeitgenosse, der gern zuspitzt, der provoziert und polemisiert. Reich-Ranicki liebt den öffentlichen Auftritt. Dem trockenen Thema Literaturkritik verhalf er zu Fernsehehren. Das "literarische Quartett" war ein TV-Hit über Jahre, bildungsbürgerliches Kulturgut für die breite Masse. Das schaffte nur Marcel Reich-Ranicki. Und vor kurzem verdammte er das Medium Fernsehen auch noch vor einem Millionenpublikum. Aber auch das nahm man ihm ab.

Doch der inzwischen 89jährige Kritiker der "Zeit" und der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" hat auch eine andere Seite. Und für die haben ihn auch viele bewundert und respektiert, die sein Wirken sonst ablehnen. 1999 erschien sein Buch "Mein Leben". Darin beschrieb er auf hohem Niveau, was ihm als Jude in Polen und Deutschland widerfahren ist, während des Nationalsozialismus, im Ghetto von Warschau, auf der Flucht vor den braunen Schergen. Auch sein Blick auf die Literaturszene der Nachkriegszeit wird in dem Buch behandelt, unterhaltsam und umfassend. Ein großes Buch.

Matthias Schweighöfer und Katharina Schüttler in einer Filmszene ("Mein Leben"), beide blicken frontal in die Kamera, Szene während der Deportation Warschau, Ghetto (Foto: WDR)
Marcel (Matthias Schweighöfer, l.) und Tosia (Katharina Schüttler) in einer Szene des Films "Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben"Bild: picture-alliance/dpa

MRR und die Narrenfreiheit

Reich-Ranicki genießt inzwischen so etwas wie Narrenfreiheit. Die Rubrik "Fragen Sie Reich-Ranicki" in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung", in der der Kritiker auf Leserfragen antwortet, ist Beispiel für die inzwischen völlige Hörigkeit seiner langjährigen Hauszeitung. Wie Reich-Ranicki hier manchmal Leser abkanzelt und beleidigt und wie er immer wieder auf seine eigenen Bücher verweist, das hat schon Kabarettniveau, ist aber auch ein bedenkliches Zeichen für Altersstarrsinn und Narzissmus des Autors. Und wenn der immer wieder gern als "Literaturpapst" betitelte Reich-Ranicki wieder einmal gebeten wird, Schriftsteller zu Geburts- oder Todestagen zu würdigen, erfährt man mehr über den Rezensenten und dessen Bücher als über den Geehrten.

Angela Merkel beglückwünscht Marcel Reich-Ranicki 2008, im Hintergrund 3. Person mit Preis (Foto: AP)
Auch Kanzlerin Merkel ehrt Reich-Ranicki, hier im Jahre 2008Bild: AP

Auf der anderen Seite nützt Reich-Ranicki diese Narrenfreiheit auch für mutige Auftritte wie jüngst beim Deutschen Fernsehpreis. Vor einem Millionenpublikum schleuderte er der versammelten Fernsehprominenz schonungslos seine Verachtung entgegen. Da stockte so manchem Beobachter der Atem. Doch Reich-Ranicki sprach vielen Kritikern der TV-Szene aus dem Herzen. So offen hatte sich das keiner vor ihm getraut. Es war noch einmal ein Triumph des großen Öffentlichkeitsarbeiters Reich-Ranicki.

Verdienste als Literaturkritiker

Reich-Ranicki zehrt von seinem Ruf als wirkungsmächtigster Literaturkritiker in Deutschland. Seine Lobreden wie auch seine Verrisse sind legendär. Von ihm überhaupt besprochen zu werden, war gut für den Autor, den Verlag, die Auflage. Reich-Ranicki konnte als Kritiker frei schalten und walten, war kaum eingebunden in den Redaktionsalltag seiner Arbeitgeber. Das hat er immer wieder genutzt, um Bücher zu schreiben. Meist waren das Ansammlungen älterer Zeitungsartikel. Die wurden immer wieder neu kombiniert und zusammengestellt. Reich-Ranicki wurde dann nicht müde, in den eigenen Kritiken auf diese Bücher hinzuweisen. Ein glänzender Verkäufer in eigener Sache.

Reich-Ranicki sitzend mit erhobenen Zeigefinger im Profil (Foto: dpa)
Mit typischer Geste: Marcel Reich-RanickiBild: picture-alliance / dpa

Reich-Ranicki hat sich mit seinem Hang zur Polemik viele Feinde gemacht. Das wusste er, nahm es in Kauf. Er selbst sah sich in der Tradition deutscher Kritiker vom Range eines Heine, Kerr oder Tucholsky. Geschickt hat er seine Zuspitzungen immer mit dem Argument verteidigt, er schreibe für das Publikum, nicht für die Wissenschaftler oder die Literaten. Dass man durchaus verständlich und unterhaltsam über Literatur schreiben kann, ohne zu polemisieren, hat er konsequent ignoriert.

Überwältigender Erfolg mit "Mein Leben"

Als vor zehn Jahren seine Autobiografie "Mein Leben" erschien, war er auf dem Höhepunkt seines Ruhmes angekommen. Das Buch über sein Leben erntete begeisterte Kritiken, wurde 1,2 Millionen Mal verkauft. Vor allem die Passagen über das Ghetto in Warschau, über Flucht und Versteck sind bewegend. So war es nur eine Frage der Zeit, bis der Stoff auch verfilmt werden würde. Regisseur Dror Zahavi hat sich klugerweise auf die Zeit bis in die ersten Nachkriegsjahre beschränkt, erzählt den Stoff in langen Rückblenden.

Filmszene aus "Mein Leben": Matthias Schweighöfer und Katharina Schüttler hockend an einer Mauer im Ghetto (Foto: WDR)
Tosia und Marcel verstecken sich vor den NazisBild: Bild: WDR/Thomas Kost

In der Rolle Reich-Ranickis ist Matthias Schweighöfer zu sehen. Der junge Schauspieler macht seine Sache gut, ebenso wie die anderen Akteure. Der Film beeindruckt einmal mehr mit der Darstellung der unfassbaren Leidensgeschichte der Juden in Polen. Wer bei der Premiere in dem Kölner Kino hinter dem alten Mann saß, der all das miterleben musste, wer sah, wie Reich-Ranicki nach dem Abspann, gestützt von Teammitgliedern, auf die Bühne kam und nur schlicht und einfach "Danke" sagte, der hatte mal wieder den "anderen" Reich-Ranicki erlebt: einen, der Schreckliches erlebt, der überlebt, der nie aufgegeben hat - auch mit Hilfe der Literatur, mit seiner Liebe zur deutschen Kultur.

Autor: Jochen Kürten
Redaktion: Sabine Oelze