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Politik

Der arabische Aufklärer Sadiq al-Azm

14. Dezember 2016

Bis zuletzt hat sich der syrische Philosoph Sadiq al-Azm gegen die kulturellen und politischen Verkrustungen im Nahen Osten gewandt. Am Ende scheiterte er an den Machtverhältnissen der Region. Sein Werk bleibt aktuell.

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Syrien Philosoph Sadik Al-Azm
Bild: picture-alliance/dpa/M. Schutt

Ruhig geworden war es bis zuletzt nicht um ihn. Im Jahr 2015 wurde er mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet, zwei Jahre vorher nahm er in Ramallah im Westjordanland den Mahmud-Darwisch-Preis für Kreativität entgegen. Ruhig aber war er vor allem selber nicht. Zahllos die Interviews, die er gab, die Einlassungen und Kommentare zur Tragödie seines Heimatlandes Syrien, wo Sadiq al-Azm 1934 in einer wohlhabenden, säkular orientierten Familie geboren wurde. 

Dass sich sein Heimatland zum Besseren verändern ließe, wollte er zu Beginn der syrischen Aufstände im Frühjahr 2011 zumindest nicht ausschließen. Darum ließ er sich ins Gremium der Nationalen Koalition der syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte wählen, ein Bündnis aus den frühen, noch nicht ganz so finsteren Zeiten der syrischen Revolution. Die Nationale Koalition vertrat all das, wofür die Syrer ursprünglich auf die Straße gegangen waren: Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Menschenwürde.

"Vorsicht und Wachsamkeit"

Als die Auseinandersetzungen in der Heimat mit immer größerer Härte geführt wurden, fand Sadiq al-Azm 2012 Asyl in Deutschland. Zu dieser Zeit bestätigten die Ereignisse, was er insgeheim womöglich schon wusste, zumindest aber ahnte: Die säkularen Regime in der arabischen Welt sind autoritär. Nicht überall lassen sie sich so leicht stürzen wie in Tunesien. Die Machthaber in der Region sind gerüstet. "In unserer Kultur und Gesellschaft", erklärte er in einem Interview mit dem Online-Magazin Al Jumhuriya, "gibt es viele Beispiele von Autoritarismus, Kriminalität, Paternalismus und mafiöser Rache. Sie machen den Wandel eines despotischen Regimes zu einer durchaus denkbaren Möglichkeit, die allerdings äußerste Vorsicht und Wachsamkeit erfordert."

Syrien Aleppo Syrische Truppen
Die Aufklärung in Trümmern: Szene aus AleppoBild: Getty Images/AFP/G. Ourfalian

Zum Zeugen dieser Wachsamkeit wurde Al-Azm bereits in den späten 1960er Jahren. Damals beobachtete er den Aufstieg und Niedergang des ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser. Der war ein Hoffnungsträger, erinnert sich al-Azm: ein Held der Massen, der Araber, wie der Menschen im Süden der Welt generell. Nasser, das war der charismatische Führer, der, wie Fidel Castro in Kuba oder Julius Nyerere in Tansania, dem Diktat des Nordens entgegentrat - und sich für Rechte und Würde der ehemals kolonisierten Staaten einsetzte. 

Aber Nasser war auch derjenige, der den Grundstein des autoritären Staates in Ägypten legte - und den Anstoß zur Errichtung jener Geheim- und Spitzeldienste, mit deren Hilfe seine Nachfolger ihre Landsleute drangsalierten. Aufmerksam beobachtete Al-Azm, wie die säkularen Führer, die explizit darauf verzichteten, ihre Herrschaft religiös zu legitimieren, eben diese Legitimität aufs Spiel setzten, indem sie auf immer rüdere Herrschaftsmethoden setzten.

Das Scheitern des Säkularismus

Für Sadiq al-Azm verspielten sie damit nicht nur die politische, sondern zugleich auch die kulturelle und soziale Zukunft der ihnen anvertrauten Länder - und zwar mit bis heute reichenden Folgen. Denn durch ihr zunächst harsches, später offen gewalttätiges Vorgehen verspielten Staats- und Regierungschefs wie etwa Anwar al-Sadat in Ägypten, Saddam Hussein im Irak und Hafiz al-Assad den Ruf von Säkularismus und Nationalismus, in deren Namen sie die Regierungsgeschäfte übernommen hatten. 

Ägypten ehemaliger Staatspräsident Gamal Abdel Nasser
Volkstribun, aber auch Gründer des autoritären Staates: der ägyptische Präsident Gamal Abdel NasserBild: picture-alliance/dpa

Ihr politisches und moralisches Scheitern, sagte Al-Azm einmal gegenüber der Deutschen Welle, war darum so tragisch, weil es eine tiefe politische und kulturelle Lücke entstehen ließ: "Und diese Lücke besetzte der politische Islam." Ende der 1960er Jahre gewann jene politische Bewegung an Fahrt, die in den folgenden Jahrzehnten in Teilen immer radikaler und schließlich offen terroristisch wurde. Für Sadiq al-Azm ist der Islamismus das Produkt einer gescheiterten Säkularisierung.

Kritik des religiösen Denkens

Kulturell und gesellschaftlich war dies vor allem darum so tragisch, weil das religiöse Denken die Menschen der Region für Al-Azms Geschmack bislang schon viel zu stark im Griff hielt und massiv an ihrer Entwicklung hinderte. In seinem 1969 erschienenen Essay "Naqd al fikr al-dini" ("Kritik des religiösen Denkens"), beschrieb er die religiös bedingte Befangenheit seiner Zeitgenossen in derart scharfen Worten, dass sie selbst im liberal eingestellten Beirut eine Gerichtsverhandlung provozierten.

Der Bruch mit der Tradition strapaziert aber nicht nur die Behörden. Ebenso setzt er all jene unter Stress, die es im Privaten versuchen: "Mehrere meiner Freunde durchliefen eine ernsthafte existenzielle Krise, die dem direkten Zusammenprall zwischen ihrer strengen religiösen Erziehung und der aufsteigenden Welle des Nationalismus entsprang", schrieb er in seinen Erinnerungen. "Dies galt vor allem für jene Damaszener, von denen viele im direkten Umfeld der Muslimbrüder oder in ihrem Geist erzogen worden waren, die also eine hochgradig konservative traditionelle Erziehung genossen hatten."

Weimar, Preisträger der Goethe-Medaillen 2015
Glaube an die Kraft des Wortes: Sadiq al-Azm bei der Verleihung der Goethe-Medaille 2015Bild: picture-alliance/dpa/M. Schutt

Diese Erziehung werden die jungen Araber so leicht nicht überwinden. Denn die Psyche wirkt in tiefen Strukturen, und das, beobachtet Al-Azm, bleibt auch auf die Empfindungen politisch modern denkender Araber nicht ohne Auswirkungen: "Der junge arabische Revolutionär von heute ist politisch ein Umstürzler, aber in der Tiefe seines Herzens ist er in aller Regel ein sozialer, religiöser, kultureller, ethischer und ökonomischer Konservativer."

Verpasste Chancen

Gegen diesen Konservatismus ist Al-Azm immer angegangen. Er gehörte zu jener Generation - zu ihr zählten auch seine Landsleute, die Dichter Alia Ahmad Said alias Adonis (geboren 1930) und Nizar Qabbani (1923-1998) - die von einer politischen und kulturellen Moderne träumte. Es machte nicht nur ihre Tragik, sondern die der gesamten Region aus, dass sich diese Moderne in der arabischen Welt nie umsetzen ließ.

Im persönlichen Umgang höflich und aufmerksam, im Gespräch hochpräzise, steht Sadik al-Azm für die großen Chancen, um die die arabische Welt sich teils selbst brachte, teils gebracht wurde. Anfang dieser Woche ist er in seinem Berliner Asyl gestorben.

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika