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Der Anschlag kam nicht überraschend

Bettina Marx31. Juli 2002

Israels Ministerpräsident Ariel Scharon erntet die blutigen Früchte seiner Liquidierungspolitik. Ein Kommentar von Bettina Marx.

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Der Anschlag traf die israelische Gesellschaft mitten ins Herz. Denn die prestigeträchtige Hebräische Universität von Jerusalem gilt nicht nur als ein Ort des Forschens und
Lernens. Sie ist außerdem ein Symbol des aus der Zerstreuung in seiner alten Heimat zusammengeführten
jüdischen Volkes. Sie steht für den Anspruch Israels auf Beteiligung am Leben der Nationen und für seinen Willen, einen Beitrag für den wissenschaftlichen Fortschritt zu
leisten.

Die Hebräische Universität ist sowohl der Tradition des jüdischen Lernens als auch dem Vertrauen in die Zukunft
verpflichtet. Darüber hinaus gilt sie als einer der wenigen Orte in dieser blutgetränkten Region, an dem Juden und Araber noch zusammen arbeiten und leben können.

Dennoch kam dieser neuerlich Anschlag nicht überraschend. Im Gegenteil, er war erwartet worden. Seit dem Angriff israelischer Kampfbomber auf ein Wohnhaus in Gaza in der letzten Woche, bei dem 15 Palästinenser umkamen, hat man in Israel damit gerechnet, dass ein weiterer Vergeltungsschlag folgen würde.

Ministerpräsident Ariel Scharon selbst hatte zur Umsicht aufgerufen und seine Landsleute vor der Rache der Palästinenser gewarnt. Eine Rache, die er selbst
heraufbeschworen hatte. Denn trotz erster Anzeichen für eine
bevorstehende Entspannung zwischen den Konfliktparteien - oder genau wegen dieser Anzeichen - hatte er in der letzten Woche den Befehl gegeben, den gesuchten Hamasführer
Salah Schechade zu liquidieren.

Die Ein-Tonnen-Bombe, die daraufhin von einem F-16-Kampfflugzeug auf ein dicht besiedeltes Gebiet in Gaza geworfen wurde, löschte nicht nur das Leben von neun unschuldigen Kindern aus, sie machte auch den ersten und noch etwas zaghaften Versuchen von palästinensischer Seite, den Kreislauf der Gewalt zu unterbrechen, ein jähes und blutiges Ende.

Nur einen Tag vor dem fatalen Angriff auf Gaza hatten sich die Führer militanter Palästinenserorganisationen, darunter die Hamas und die Tansim-Milizen, auf einen einseitigen Waffenstillstand verständigt. Die mit der PLO von Yassir Arafat verbundenen Fatach- und Tansim-Organisationen hatten bereits einen Brief an die wichtigsten amerikanischen Zeitungen formuliert, in dem sie ihren Verzicht auf Gewalt erklären und um Verständnis für ihren Kampf um Freiheit werben wollten.

Doch dieser Brief wurde nach dem Angriff auf Gaza nicht abgeschickt. Statt dessen wurden wieder einmal Todesurteile unterzeichnet. Die Todesurteile der Studenten zum Beispiel, die sich an diesem heißen Mittwoch-Mittag in der Cafeteria der juristischen Fakultät der hebräischen Universität aufgehalten haben. Sie hatten keine Chance, dem
Mordanschlag zu entkommen. Ihr Leben und damit die Hoffnung ihrer Familien auf eine bessere und friedlichere Zukunft war an diesem Tag zu Ende.

Sie mußten mit ihrem Leben für die verantwortungslose Politik ihrer politischen Führung bezahlen, für die falsche Entscheidung, mit der Ministerpräsident Scharon wieder einmal jede Hoffnung auf eine Beruhigung der Lage zunichte gemacht hatte. Was nun folgen wird, ist klar: israelische Vergeltung und weitere palästinensische Anschläge. Der israelische Geheimdienst warnte bereits davor, dass weitere sechzig Attentäter unterwegs seien, um ihre todbringenden Bomben zu platzieren.

Die Opfer dieser Attentate sind genau so unschuldig, wie die palästinensischen Kinder, die in Gaza sterben mussten, und wie das 14-jährige Mädchen in Hebron, das von randalierenden israelischen Siedlern ermordet wurde. Sie alle mußten sterben, damit die radikalen Minderheiten auf israelischer und palästinensischer Seite ihren erbarmungslosen Krieg fortsetzen können.

Keiner der jungen Studenten, die auf dem Skopus-Berg in Jerusalem im Angesicht des atemberaubenden Panoramas der judäischen Wüste sterben mußten, hat den Einsatzbefehl der F-16-Kampfflugzeuge unterzeichnet. Und dennoch hat dieser Einsatzbefehl auch ihren Tod besiegelt. Sie mußten
mit ihrem Leben für die Ideologie der Extremisten an der Spitze der israelischen Regierung bezahlen, die ihre Bevölkerung als Geisel genommen haben. Für die Unnachgiebigkeit des israelischen Ministerpräsidenten,
dem es bisher immer wieder gelungen ist, mit gezielten Liquidierungen zur rechten Zeit jede Waffenruhe zu
zerstören und jede Aussicht auf ein Ende der Gewalt zunichte zu machen.

Seit seiner Wahl vor anderthalb Jahren spricht Scharon von Sicherheit und Frieden. Die letzten zweiundzwanzig Monate aber haben unter den Israelis fast sechshundert Todesopfer gefordert. Unter den Palästinensern sind es sogar dreimal so viele. Scharon also ist gescheitert. Er sollte, genauso wie sein Erzfeind Yassir Arafat, zurücktreten und Jüngeren und Besseren das Feld überlassen.