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Der Baikalsee ist heilig

Juri Rescheto14. September 2016

Jahrzehnte waren sie entwurzelt, durften ihre Kultur nicht ausleben. Jetzt blüht der burjatische Schamanismus wieder auf. Am Baikalsee, dem heiligen Meer, wie man ihn in Sibirien nennt. Juri Rescheto berichtet.

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Sonnenaufgang am Baikalsee (Foto: DW/R. Richter)
Bild: DW/R. Richter

Womit fange ich an? Mit dem Sonnenaufgang oder mit dem Sonnenuntergang? Beide sind fantastisch am Baikalsee. In Sibirien. In einer der schönsten Ecken der Welt. Dieser See macht mich im ersten Augenblick sprachlos. Er ist groß: das größte Süßwasserreservoir der Welt. Er ist sauber: man kann das Wasser gleich beim Baden trinken. Er ist voller Geschichten. Eine davon erzählt mir Irina Tanganova, eine freundliche Schamanin aus der ostsibirischen Industriestadt Irkutsk, die ich um vier Uhr morgens am Ufer des Baikalsees treffe. Beim Sonnenaufgang. Und damit ist die Anfangsfrage geklärt.

Irina, um die 70, braune Mandelaugen, azurblaues Kleid, macht einen robusten Eindruck. Gerade genießt sie die Ruhe des Frühherbsts und die ersten Sonnenstrahlen, die sich im fast stillen Wasser spiegeln. "Für uns Burjaten ist das kein See. Für uns ist das ein Meer. Das heilige Baikalmeer."

Schamanin Irina ruft zur Geisterankunft

Schamanin Irina kommt seit dreizehn Jahren hierher. Sie hält sich für eine Geisterbeschwörerin. Das Letztere macht sie auf Burjatisch, der Sprache ihres Volkes. Irina singt leise. "Wie viele Schamanen gibt es am Baikalsee", möchte ich wissen. "Viele, bis zu hundert. Wir kommen hierher, um hier Kraft zu tanken und weil hier unsere 13 Chatas leben: Götter und Geister. Sie sind stark und wollen uns ihre Macht zeigen. Willst Du sie sehen?" Und ob!

Um die Geisterankunft nicht zu verpassen, mache ich mich mit Irina gleich auf den Weg. Dorthin, wo sich die Urvölker Sibiriens seit 13 Jahren zu der Internationalen Schamanen-Konferenz treffen, wie sie ihre Zusammenkunft selbst nennen. Gegen acht Uhr morgens kommen um die hundert Männer und Frauen, zwischen 30 und 70, fast alle aus der Gegend zum Cup Burchan, der Kultstätte der Burjaten. Zwei jung gebliebene Österreicherinnen sind auch dabei. Optisch und sprachlich fallen sie zwar ein bisschen aus dem Konzept heraus, werden aber trotzdem sehr wohlwollend mit allen schamanischen Grüßen bedacht.

Schamanin Irina Tanganova am Baikalsee (Foto: DW/R. Richter)
Schamanin Irina Tanganova beschwört die GeisterBild: DW/R. Richter

In der Sowjetzeit verboten

Zuerst die Birken. Sie werden mit Stofffetzen geschmückt. Irina ist von Anfang an dabei und kennt sich mit Regeln der Geisterbeschwörung aus: "Wenn die Geister auf die Erde herabsteigen, lassen sie ihre Strahlen durch die Birken wieder nach oben steigen. Wenn wir Schamanen diese Birken berühren, werden wir selbst ein Teil des Universums." Aha.

Der Schamanismus ist eine Mischung aus Religion, Naturheilkunde und Okkultismus. Hier am Baikalsee wurde er seit Jahrhunderten praktiziert. Außer in der Sowjetzeit. 70 Jahre lang mussten die Burjaten wie alle Sowjetbürger auf die KPdSU glauben, Russisch lernen und das "Moralische Kodex des Erbauers des Kommunismus" auswendig lernen. Viele vergaßen dabei ihre eigene Sprache, geschweige denn ihre Religion. "Ich fand erst später zum Glauben. Viel später. Mit 60 ", gesteht mir Irina. "Meine Oma war auch Schamanin. Meine Mutter nicht. Weil sie in der Sowjetzeit lebte und das nicht durfte. Darum starb sie auch früh."

Das Dorf Chuzhir auf der Insel Olchon (Foto: DW/R. Richter)
Das Dorf Chuzhir auf der Insel OlchonBild: DW/R. Richter

Die Chinesen fehlen noch

Wir sind auf Olchon, der größten Insel des Baikalsees, in Chuzhir, einem burjatischen Dorf mit anderthalb Tausend Einwohnern. Früher war Chuzhir ein sowjetischer Fischerort. Heute rosten hier ein Dutzend Barkassen am Ufer vor sich hin. Die Bevölkerung lebt vom Tourismus. Die meisten kommen aus China. Sie übernachten in Holzhäusern und reisen wieder ab. Die Internationale Schamanenkonferenz hat sich anscheinend unter den chinesischen Fremdenführern noch nicht herumgesprochen. Es sind kaum Besucher dort, wo gleich die Geister herabsteigen sollen. Zum Glück!

Gegen Mittag stellt Irina ihren wackeligen Klapptisch auf, setzt sich auf ihren Plastikklappstuhl und holt die Opfergaben aus einer großen Sporttasche heraus. Zuerst die Milch. "Daneben stelle ich Balan. Das ist eine Mischung aus Keksen, Pralinen und Lebkuchen. Dazu die Sula, eine Kerze also. Das alles bringt Glück und Wohlstand. Hier noch der Wodka. Unbedingt in diese Richtung, wo die Geister herkommen werden. Hier noch das Geld und die Zigaretten. Falls der Geist eine rauchen will."

Birkenzweige mit Kochwasser ins Gesicht gespritzt

Ich muss die ganze Zeit schmunzeln, finde aber die Ernsthaftigkeit, mit der Irina und ihre "Kollegen" sich auf das Ritual vorbereiten, rührend. Gegen Mittag wird es windig. Die Geister kündigen angeblich ihre Ankunft an. Mit einem monotonen Trommeln erklären die Schamanen angeblich ihre Bereitschaft. Die Geister dürfen kommen!

Ein Lamm wird getötet, gehäutet, gekocht. Das Opferlamm. Für die "Götter". Später werden Männer und Frauen mit offenen Mündern - nach Geschlechtern getrennt - mittels Birkenzweigen mit Kochwasser vom Lamm ins Gesicht gespritzt. Halbnackt. Das soll das Böse austreiben. Eine archaisch anmutende Sitte. An die man glauben muss. Damit sie auch wirkt.

Sonnenaufgang am Baikalsee (Foto: DW/R. Richter)
Sonnenaufgang am BaikalseeBild: DW/R. Richter

Irinas Großmutter erscheint

Irina trommelt sich in Trance. Sie singt. Diesmal laut. Sie trommelt. Und singt. Fünf Stunden lang. Bei Regen und Wind. Dann tanzt sie. Zusammen mit anderen 30 Schamanen um die Birken herum. Endlich werden die Geister empfangen. Für einen Außenstehenden wie mich leider unsichtbar. Aber der Tanz und die ganze Szenerie sind beeindruckend genug.

Der Höhepunkt ist dann die Oma. Irinas verstorbene Großmutter, die plötzlich in Irinas Körper sein soll, weswegen Irina, um die 70, früher sowjetische Lehrerin, heute mit einer Schamanenmaske bedeckt, gebeugt vor sich herumtappst und mit leeren Händen in der Luft um sich herumgreift. Sie singt jetzt hoch, mit ihrer Großmutterstimme.

Die gefangene Asche soll Gesundheit bringen

Eine kleine Menschenschlange bildet sich vor Irina alias Irinas Oma in Irinas Körper. Jetzt muss die Schamanin zeigen, was sie kann, in ihrer Trance den Menschen aus der Schlange helfen: heilen, böse Geister austreiben usw.

Nach der Zeremonie werden die Birken verbrannt. Ich erfahre, dass die Asche, die man dabei fängt, Gesundheit bringen soll und Glück: "Ich wünsche Gesundheit. Das ist das Wichtigste. Du bist Entdecker, du musst viel lernen im Leben. Ich will vermitteln. Den anderen helfen, damit wir alle glücklicher werden, ok?", fragt mich die verschwitzte ältere Burjatin glücklich nach ihrer "Rückkehr" aus der Trance. Sie schaut mich schelmisch dabei an. "Ok!", nicke ich und bedanke mich für diese schöne Geschichte. Die Geschichte vom Baikalsee. Eine von vielen.